Wieken-Verlag Autorenservice Autoren,Schreiben,Schreibwerkstatt Mein Text und ich – Wie gewinne ich Distanz?

Mein Text und ich – Wie gewinne ich Distanz?

 Schreiben ist eine sehr persönliche Handlung. Wenn Sie schreiben, gelingt es Ihnen, unformulierte Ideen und Gedanken in Worte zu kleiden und festzuhalten. Oft waren Ihnen diese Ideen und Gedanken nicht bewusst. Selbst ein exakt geplanter Handlungsablauf, auf den Sie sich während des Schreibens immer wieder beziehen, legt Ihnen keine Worte in die Finger. Die kommen aus Ihnen.

Distanz zum Bearbeiten des Textes finden

Jeder Text ist etwas Besonderes. Viele Autoren sind jedes Mal aufs Neue überrascht über das, was sie niedergeschrieben haben. Die Beziehung zum Text ist sehr eng. Selbst wenn Sie sich über die Worte wundern, die Sie gefunden haben, erkennen Sie die Ideen dahinter wieder.

Gerade diese Nähe zum Text macht es jedoch so schwierig, den eigenen Text zu überarbeiten. Viele Autoren vertrauen auf die Fähigkeiten einer Lektorin. Doch eine Lektorin wird sich im Normalfall nicht bedanken, wenn ihr ein roher erster Manuskriptentwurf auf den Schreibtisch fällt. So ein erster Entwurf verlangt immer nach Überarbeitung. Es wäre eine Zumutung für die Lektorin zu verlangen, sie sollte einem ersten Entwurf den nötigen Feinschliff für die Veröffentlichung geben. Es wäre auch Geldverschwendung. Und es wäre wahrscheinlich nicht förderlich für die weitere Zusammenarbeit mit dieser Lektorin.

Es muss Ihnen gelingen, Abstand zu Ihrem Text zu gewinnen. Erst dann sind Sie in der Lage, den Text zu überarbeiten.

Was lauert in einem ersten Entwurf?

In einem ersten Entwurf, besonders von weniger erfahrenen Autoren, und von weniger routinierten Tastschreibern, stecken vor allem viele Tippfehler und Grammatikfehler. In einem Manuskript von mehreren zehntausend Wörtern sollte das niemanden überraschen. Aber die meisten dieser Fehler können Sie selbst entdecken und verbessern.

In einem ersten Entwurf stecken aber auch logische Fehler, inhaltliche Unklarheiten, sachliche Fehler, Wiederholungen, zu kurze oder zu lange Szenen, zu wenig oder zu viele Informationen, Sprünge, ungewollte Stimmungs- und Tempowechsel, ungewollte oder unnötige Perspektivwechsel und tausend andere Probleme.

Und die erste Person, die sich diesem Wust aus brillanten Formulierungen und bescheuerten Beschreibungen stellen muss, sind Sie, die Autorin.

Der erste Schritt – gleich nach dem Schreiben

Nur Sie kennen die Ideen und Gedanken, die Sie antrieben, während Sie schrieben. Deshalb können nur Sie die eigentliche Handlung ausgraben.

Unglücklicherweise macht diese Nähe zum Text Sie auch blind für viele Probleme. Damit Sie Ihren ersten Entwurf auf nutzbringende Weise bearbeiten können, benötigen Sie Distanz.

Ein erstes Aufräumen können Sie gleich nach dem Schreiben durchführen. Lesen Sie sich Ihren Text einmal durch. Oft hilft es, ihn auszudrucken. Lassen Sie in dieser Phase die Finger vom Rotstift. Sie müssen sich erst einmal zu Gemüte führen, was Sie geschrieben haben. Obwohl der Schreibvorgang gerade erst abgeschlossen ist, erkennen Sie bereits jetzt die auffälligsten Fehler. Beheben Sie die, korrigieren Sie Rechtschreibung und Grammatik. Falls Sie Textstellen entfernen, speichern Sie sie in einer extra Datei. Vielleicht brauchen Sie sie später noch als Steinbruch für Ideen und Formulierungen.

Der zweite Schritt – Ruhen lassen

Legen Sie dann den Text beiseite. Zwei bis sechs Wochen sollte er ruhen dürfen. Es darf auch länger sein.

Wenn der Text ruft, ist die Zeit gekommen, ihn richtig zu bearbeiten. Früher oder später wird sich jeder Text melden. Sie sollten sich dann mit ihm beschäftigen, sonst verlieren Sie möglicherweise die enge Bindung und überlassen den Text in der Schublade seinem Schicksal.

Der dritte Schritt – Ans Eingemachte gehen

Wenn Sie einen Text zur Überarbeitung aufnehmen, müssen Sie ihn neu entdecken, ehe Sie ihn überarbeiten.

  • Lesen Sie einen neuen Ausdruck oder lesen Sie Ihren Text auf einem Lesegerät. Halten Sie sich zurück mit Korrekturen. Sie lernen Ihren Text neu kennen, also üben sie sich in Geduld.
  • In einem zweiten Lesevorgang notieren Sie, was Ihnen auffällt. Sie können auch Fragen an den Text aufschreiben und im weiteren Lesen oder durch Zurückblättern überprüfen, ob der Text diese Fragen beantwortet.
  • Formulieren Sie präzise, welche Handlungsstränge im Text vorkommen. Selbst wenn Sie das in Ihrer Planung für den Text bereits getan haben, untersuchen Sie nun den existierenden Text und vergleichen Sie ihn mit Ihrer Planung.
  • Stellen Sie Fragen an Ihre Charaktere und prüfen Sie, ob sie Ihrer Planung entsprechen und ob sie sich so verhalten, wie es für Menschen in ihrer Situation zu erwarten ist.
  • Es schadet nicht zu prüfen, ob Charaktere im Verlauf der Handlung ihren Namen ändern. Entscheiden Sie sich für einen Namen und eine Schreibweise. Diese Information können Sie später auch der Lektorin geben.
  • Überprüfen Sie die Abfolge der Szenen. Stellen Sie sicher, dass Reihenfolge und Übergänge nachvollziehbar sind.
  • Prüfen Sie, ob Sie im Text Versprechen geben und ob diese Versprechen erfüllt werden. Wenn Sie schreiben „Lydia würde bald erfahren, wie sehr sie sich getäuscht hatte“, stellen Sie sicher, dass Lydia zeitnah erfährt, dass sie sich getäuscht hatte. Wenn Lydia zweihundert Seiten und zehn Jahre benötigt, um zu erfahren, dass ihre Erwartungen nicht eintrafen, sollten Sie sich überlegen, wie Sie das Problem lösen.
  • Ihr Manuskript enthält wahrscheinlich einige sehr schöne Stellen, die leider wenig zum Fortgang der Handlung beitragen. Streichen Sie sie.
  • Trennen Sie sich auch von Charakteren, die keine Funktion in der Handlung haben. Überprüfen Sie nicht nur Nebenfiguren, denn die wirken oft wie ein Katalysator in der Handlung. Viel Zeit rauben dagegen Charaktere, die oft im Umfeld der Hauptpersonen auftreten. Legen Sie notfalls mehrere Charaktere zusammen zu einer Person. Das entlastet viele Leser.

Wenn Sie Ihr Manuskript so durchgearbeitet haben, lesen Sie es sich mindestens einmal laut vor. Sie können sich auch aufnehmen und den Text später anhören. Mit lauter Stimme ausgesprochen klingen Ihre Worte ganz anders. Unstimmigkeiten in der Logik, vor allem aber Probleme im Erzählrhythmus und Disharmonien im Ausdruck fallen im gehörten Text stärker auf.

Lassen Sie Ihren Text anschließen noch einmal ruhen oder geben Sie ihn einigen vertrauten und ehrlichen Personen zu lesen. Wiederholen Sie die Überarbeitung noch einmal. Dies ist der früheste Zeitpunkt, ihn einer Lektorin zu überlassen.

Kommentar verfassen

Related Post