Leseprobe – Der Friedhofer

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1) Pietätvoll

schreitet die Musik voran, gefolgt vom Zug der Trauernden. Kein Priester ist dabei. Zur Melodie von Gustav Mahlers 5. Sinfonie, einem Trauermarsch, schwebt Herbstlaub im sanften Wind herab auf die Friedhofswege. Die tiefstehende Sonne lässt lange Schatten wie Trauertücher über die Gräber legen. Zwischen Kapelle und Trauerzug trägt ein Mann in Schwarz eine Urne. Er ist würdevoll gekleidet. Der Anzug sitzt nicht ganz perfekt, doch wie oft braucht man schon solche Kleidung. Die Hälfte der schwarzen Krawatte verschwindet unter der Weste. Eine große Sonnenbrille verdeckt seine Augen, eine Schirmmütze sein kurz geschnittenes Haar.

Am Grab spricht ein Redner. Er fasst ein Leben in kurze sieben Minuten. Worte vom Werden und Vergehen schließen die Rede.

Der Mann, der die Urne in seinem Arm hält wie ein Baby, übergibt das Aschegefäß an zwei Herren des Friedhofspersonals. Er tritt hinter die erste Reihe der Angehörigen zurück. Begleitet von einem weiteren Trauermarsch der Kapelle versinkt die Urne langsam im offenen Grab. Kränze und Blumengestecke rahmen diesen winzigen Ort der letzten Ruhe.

Der Mann mit der schwarzen Uniform hält sich zurück. Er muss sich zusammenreißen, um vor Schmerz nicht laut aufzuschreien. Er will nicht so leiden.

Obwohl in der Traueranzeige darum gebeten wurde, von Beileidsbekundungen abzusehen, bezeigen der Familie nach und nach alle Anwesenden ihre Anteilnahme. Im Gegensatz zum Frühjahr, als wegen der Corona-Pandemie-Regeln nur die engsten Angehörigen bei Beerdigungen dabei sein durften, sind es nun wieder Dutzende. Die meisten von ihnen geben nicht die Hand beim Kondolieren und deuten eine Verneigung an.

Unbeachtet entfernt sich der Urnenträger von diesem Ort. Die Qual lastet schwer auf seiner Brust. Sie nimmt ihm die Luft zum Atmen. Es dauert eine Weile, bis er wieder klar denken kann. Er weiß noch nicht genau, was zu tun ist. Doch stellt er sich die Frage: Wer ist schuld?

*

2) Ein halbes Jahr später, 18. Kalenderwoche

Im Osten schoben sich ein paar Wolken vor die Morgensonne.

Anni Kramers Collie-Mischling Beni zerrte an der Leine. Bevor Anni ihn heute am Montagmorgen angeleint hatte, war der Rüde schon unruhig im Haus herumgelaufen. Er gebärdete sich wie damals, als die zu Stephanskirchen gehörenden Ortsteile Hofau, Hofleiten und alle nahe am Inn gelegenen Häuser auf der Rosenheimer Inn-Seite evakuiert wurden. Tagelang hatte es in jenem Frühjahr geschüttet. Die gleichzeitige Schneeschmelze in den Alpen hatte den Innpegel gefährlich ansteigen lassen. Zu einer Überschwemmung war es dann gottlob nicht gekommen. Beni hatte die Gefahr gespürt. In diesem Frühling aber hatte es seit Tagen nicht geregnet.

Mit dem Hund musste sie jeden Tag zweimal raus an die frische Luft. Sogar während der Ausgangsbeschränkungen wegen der Corona-Krise war Gassigehen erlaubt geblieben. Wie immer kamen sie an einem Galloway-Gehege vorbei, wo sich die Rinder bei Benis Anblick an den hinteren Zaun zurückzogen. Beni interessierte sich nicht für die Viecher. Vielleicht waren sie ihm einfach zu doof und er lachte auf eine gewisse Hundeart über sie.

Anni und Beni spazierten weiter an der sowieso wenig befahrenen Innleitenstraße entlang bis zu einem kleinen Landschloss, dem sogenannten Gillitzer-Schlösschen.

Beni zog noch heftiger an der Leine. Kurz vor dem Schlösschen wurde es Anni zu blöd. Sie ließ den Hund frei. Wie von Wespen gejagt stürmte er über die Straße, den dortigen Hang hinauf durch Gestrüpp und Mischwald. Mühsam folgte Anni ihrem Liebling. Der Hang wurde nach oben immer steiler. Aber Beni hatte sein Ziel erreicht. Er bellte, hüpfte auf und ab und wedelte heftig mit dem Schwanz. Es dauerte einige Minuten, bis sich Anni zu ihm durchgekämpft hatte, doch da sah sie, was Beni so aufregte.

Ein menschlicher Körper lag im Buchenlaub neben einem Felsbrocken. Er bewegte sich nicht. Anni hatte mit einem toten Hasen oder Wiesel gerechnet, aber nicht mit so etwas! Beni bellte weiter, als würde der Mensch noch leben und er könne ihn zum Aufwachen bringen. Ein spätes Virus-Opfer, befürchtete Anni beim ersten Blick auf die Frau mit den langen, blonden Haaren. Aber so verkrümmt, wie sie dalag, dämmerte es Anni, sah das eher nach Unfall aus. Ein wenig dunkelbraunes Blut an Gesicht und Armen konnte bedeuten, dass die Leiche schon Stunden hier lag.

Obwohl Anni ihr betagtes Handy dabeihatte und wusste, wie sie einen Notruf absetzen konnte, kam sie sich einen Moment lang hilflos vor: Kein Netz. Trotz ihres Alters wusste sie sich zu helfen. Sie schaltete das Handy aus, wieder ein und gab statt der PIN die 112 ein. Das funktioniere immer, hatte ihr Enkel sie für alle Fälle aufgeklärt.

Hilfe konnte anrücken.

*

3) Am Tag nach dem Leichenfund

erkundigte sich Kriminalkommissar Kreutz in der Gerichtsmedizin über das vorläufige Ergebnis der Obduktion. Die am Hang der Innleitenstraße aufgefundene Leiche lag nackt auf dem Seziertisch.

„Das ist nicht normal.” Der forensische Pathologe Dr. Gideon Baumgartner schüttelte den Kopf. Sein rötliches, im Nacken zusammengebundenes langes Haar wippte heftig. „Diese Frau starb zwar an der Fraktur des vierten Halswirbels”, sinnierte er, ohne den Blick von der Leiche abzuwenden, „ansonsten war sie kerngesund”.

Kommissar Kreutz verkniff sich ein Schmunzeln.

„Man muss ja nicht krank sein, wenn man unglücklich stürzt und sich das Genick bricht.”

Irritiert schaute Dr. Baumgartner durch seine starken Brillengläser zum Kommissar, der es ihm gegenüber mit Abstand zum Seziertisch vermied, die Leiche genauer zu betrachten. Mit seinen Latexfingern zog er sich die grünliche Atemschutzmaske unters Kinn.

„Natürlich nicht”, grollte der Arzt, „ich meine nur, dass ihr wohl kaum schwindelig war, als sie stürzte. Drogen, Alkohol, COVID-19-Viren oder eine andere fiebrige Erkrankung, das ist alles auszuschließen. Sie war sportlich, joggte wohl täglich, fuhr Rad, schwamm oder betrieb sogar eine Kampfsportart.”

„Tae-Kwon-Do”, bestätigte der Kommissar.

Dr. Baumgartner richtete seinen Blick wieder auf die Tote.

„Das wissen Sie von Ihren ersten Ermittlungen?”

„Ja. Und Sabine Stern ist—war Heilpraktikerin, vermutlich Single und kinderlos. Ein Bruder lebt in den USA. Wurde heute erreicht und verständigt. Eltern sind verstorben. Wir gehen davon aus, dass sie an der Stelle, wo sie in die Tiefe stürzte, einen falschen Schritt machte. Der lehmige Untergrund war noch feucht von Tau. Kann also gut sein, dass sie ausgerutscht ist.”

„Ja, kann sein”, sagte der Arzt, ohne aufzusehen. „Ich habe aber keine Hinweise darauf, dass sie schlecht gesehen hätte. Keine Brillenabdrücke, keine Kontaktlinsen.”

„Na ja, mit 36 Jahren brauchte sie wohl noch keine Sehhilfe. Unter den Gegenständen in ihrer Wohnung und der Praxis war keine Brille. Ebenso an der Absturzstelle.”

„Sehen Sie, Herr Kreutz, beim Kampfsport kann man schon mal was abkriegen, Hämatome sind dabei sogar normal. Die hier sind älter als zwei Tage.” Er führte seine Hand über den rechten Oberarm der Leiche. Dann zeigte er auf zwei schwach ausgeprägte Stellen an den seitlichen Rippen. „Die neueren hier könnten schon auf einen Sturz aus etwa fünfzehn Metern Höhe zurückzuführen sein. Die Kopfverletzungen, die Schrammen und Wunden an Armen und Beinen sowieso. Aber diese beginnenden Hämatome sind kaum zu sehen, dennoch vorhanden. Die Dame hat also noch einige Minuten nach dem Sturz gelebt. Die Todesursache ist aber sicher der Genickbruch. Weitere Hämatome hätten sich kaum mehr bilden können. Aber da sie sehr hübsch war und äußerst gepflegt, ist das hier schon seltsam.”

Der Arzt streckte seinen Arm aus und hob die langen blonden Strähnen am Hinterkopf der Frau an.

„Haben Ihre Leute das gemacht, um Drogenkonsum nachzuweisen?”

„Meine Leute, wie Sie sagen, hätten das nicht machen müssen. Sie, Doktor, würden einen Test doch selbst im Labor vornehmen. Und genügend Haare wären hier im Original vorhanden.”

Die leichte Ironie in Kreutz’ Ton ließ Dr. Baumgartners Pferdeschwanz baumeln.

„Und wie erklären Sie sich das?”

Jemand hatte eine hässliche Stufe ins blutverklebte offene Haar der Frau geschnitten.

„So arbeitet kein Friseur”, stellte Kommissar Kreutz fest. „Posthum entfernt?”

„Nicht von mir. Ich habe das am Fundort nicht gleich als herausgeschnitten erkannt. Das Haar war verdreckt mit Erde, Laub und Tannennadeln. Im ersten Moment hat es ausgesehen, als wäre es beim Sturz über den Abhang ausgerissen worden.”

„Ich denke nicht”, entgegnete der Kommissar und gab zu bedenken: „Dann wären wenigstens ein paar blonde, menschliche Haare an der Absturzstelle oder dem Sturzkanal über die Böschung gefunden worden. Unsere Leute haben dort alles akribisch untersucht.”

„Und ich untersuche die Leiche. Das hier war eine Schere.” Er schob seinen Mundschutz zurück übers Gesicht. Augenscheinlich betrachtete er das Gespräch für beendet.

Vorübergehend überlegte der Kommissar, ob Frau Stern schon vorher mit der Lücke im Haar herumgelaufen sein konnte.

Vermutlich, widersprach sich Kreutz selbst, wäre diese attraktive, durch ihren Heilberuf bestimmt sehr angesehene Frau niemals mit so einem Makel außer Haus gegangen.

*

4) Eine Woche zuvor, 17. Kalenderwoche

Im Frühjahr, wenn Ostern vorbei und die Nächte frostfrei sind, erblühen der Friedhof und seine Ruhestätten wie eine Gartenschau. Von preiswerten Eisbegonien bis zu teuren Edelrosen ist alles auf den Gräbern, was die Gärtnereien hergeben. Der Duft von frisch gemähtem Gras liegt in der Luft. Der Frühling hat es in letzter Zeit beinahe jedes Jahr eiliger. Auf den Wegen sammelt sich schon jetzt erster Blütenstaub von Birken, und die Samenwolle der Trauerweiden schwebt wie Schneeflocken im sanften Wind.

Große Grabsteine wurden im Laufe der Zeit immer weniger. Kleine, pflegeleichte Gräber lösten sie ab, weil die Angehörigen fortzogen und nicht mehr täglich zum Gießen kommen können. Urnen ruhen darin. Die Namen der einst Lebenden stehen auf Platten oder Steinen im Boden, ebenso wie die der Toten, die sich in einem Teil des Friedhofs eine Baumbestattung ausgesucht haben. Manch kleiner Diamant, der aus der Asche der Verstorbenen gepresst worden war, ist ebenso im Boden beigesetzt.

Viele Lücken zwischen den herkömmlichen Gräberfeldern zeugen von Grabauflösungen. Kein Grab ist mehr für die Ewigkeit angelegt.

An einem dieser Gräber, das kürzlich eingeebnet wurde, sät ein Friedhofsgärtner Grassamen in den mit Humus vermischten Grabaushub. Er weiß, dass die „ewige Ruhe” im Schnitt nur zwölf Jahre dauert, genau wie in diesem ehemaligen Grab. Winzige Knöchelchen im Aushub stören ihn nicht. Das ist normal und lässt sich nicht vermeiden. Bald wächst ja sowieso Gras darüber.

Am Grab nebenan wirft ihm eine Frau um die Fünfzig und in dunkler Kleidung einen Blick zu. Auf dem Stein vor ihr sind der Name und das Todesdatum eines Mannes eingraviert. Der Mann im Grab, an dem die vermutliche Witwe trauert, ist in diesem Jahr verstorben.

Die hübschen großen Augen der Frau sind gerötet. Von Tränen, und, wie der Gärtner bei sich denkt, vielleicht vom Heuschnupfen. Der Tod ist sein tägliches Geschäft. Hundertfach sieht er solche Witwen und Witwer im Jahr. Sie ist zur Routine geworden, die Friedhofspflege im Jahreskreislauf, wenn früh im Jahr der Duft von Bärlauch an den Friedhofsmauern aufzieht. Oder kurz darauf wie jetzt Gras angesät wird, Rasenflächen gemäht und Äste der Baumgräber zugeschnitten werden müssen.

Der Gärtner sieht den Mann nicht kommen, der nun der Frau wegen der gebotenen Vorsicht mit Abstand von hinten über die Schulter sieht. Was er ihr zuflüstert, kann er nicht hören. Es ist ihm sowieso egal. Zuerst heulen sie sich die Augen aus, denkt er boshaft, und irgendwann siehst du sie hier nicht mehr, weil sie sich anderweitig trösten lassen. Ist ein Bube aus dem Spiel, zieht man eine neue Karte, vielleicht ist es ja ein König. Der Gärtner zieht ein wenig Rotz zurück in seine Nase. Oder ein As. Ja, der Friedhof stiftet viele neue Paare.

Er klemmt sich Schaufel und Rechen unter die Achsel, nimmt die Gießkanne und geht. Kommt ihm der Witwentröster von vorhin nicht bekannt vor?

*

5) 18. KW

Kommissar Kreutz bedankte sich bei Karlo Özogun und seinen Leuten von der Kriminaltechnik, bevor sie ihn allein in der Wohnung und gleichzeitig der Praxis von Sabine Stern zurückließen. Da ein Verbrechen nicht ausgeschlossen werden konnte, hatte er die Sicherung tatrelevanter Spuren in den Räumlichkeiten der Heilpraktikerin angeordnet.

Frau Stern hatte keine Joggingkleidung getragen, als sie auf dem leicht ansteigenden Weg an der Böschung des östlichen Innufers bei Leonhardspfunzen den Spuren nach zu urteilen ausgerutscht und den fast senkrechten Abhang hinabgestürzt war. Hatte sie nur einen Spaziergang gemacht? War sie dabei allein gewesen? Zahlreiche Fußspuren von Wanderern dort machten eine eindeutige Zuordnung für eine weitere Person zur selben Zeit unmöglich. Hatte sie jemand getroffen? Und vor allem, könnte jemand sie gestoßen haben?

Sie wohnte und arbeitete in der Innenstadt. Kreutz ging den Weg von hier zum Fundort der Leiche in Gedanken durch. Mit dem Auto fuhr man über die Innstraße und die Innbrücke stadtauswärts. Nach der Brücke nach links. Auf der Ostseite des Flusses und parallel dazu ein Stück geradeaus durch den Ortsteil Hofau flussabwärts. An der nächsten Weggabelung rechts ab, vom Fluss weg. Jetzt befand man sich auf der Innleitenstraße. Die bog nach etwa zweihundert Metern links ab und verlief dann unterhalb einer steil aufragenden, bewaldeten Böschung weiter nach Norden. Vier- bis fünfhundert Meter vor den St. Leonhards-Quellen und bis zu einer Gastwirtschaft wurde die Straße zum Mühltalweg.

Gefunden wurde die Leiche auf halbem Weg dorthin.

Weit oberhalb der Straße, an der Hangkante entlang, schlängelte sich der sogenannte Hangleitenweg. Von diesem Weg aus war Frau Stern nach unten gestürzt. Also: oben der Weg, unten die Straße, dazwischen jede Menge Bäume und Sträucher, aber auch Felsbrocken und Steine.

Der Wagen von Frau Stern stand noch in der Tiefgarage des Hauses, in dem sich ihre Praxis befand. War sie von dort bis über die Innbrücke und über den Hangleitenweg zu Fuß unterwegs gewesen? War sie abgeholt worden? Oder war sie verabredet gewesen und hatte sich ein Taxi genommen, um anschließend dort einen Spaziergang zu machen? Kreutz musste die Taxiunternehmen befragen. Ja, das Wetter hätte gepasst. Ein warmer Frühlingstag, die Bäume trieben aus, Vogelgezwitscher. Wen hatte sie getroffen?

In ihren Patientendateien fanden sich aktuell siebzehn Frauen, die sich von Sabine Stern wegen unterschiedlicher Beschwerden hatten ganzheitlich behandeln lassen. Nur vier Männer suchten Hilfe bei der Heilpraktikerin. Ob sich Frauen lieber auf alternative Arten der Behandlung einlassen, anstatt Mediziner aufzusuchen, überlegte der Kommissar. Oder waren Männer einfach nur geiziger?

Die Sitzungen bei Frau Stern kosteten laut ihren Abrechnungsdateien ein halbes Vermögen, vor allem, wenn man sie regelmäßig in Anspruch nahm. Konnte bei einer oder einem der Patienten ein Motiv darin zu finden sein? Wucher? Wohl eher nicht. Die wussten ja hoffentlich vorab, welche Kosten auf sie zukamen.

Der Kommissar schaute sich die gerahmten Zertifikate an den Wänden der Praxis an. Die Dame schien als Heilpraktikerin kompetent und in einigen Bereichen spezialisiert gewesen zu sein. Spannungsauflösungen, Akupunktur zum Abnehmen bei Adipositas, Stressbehandlung und Hypnose bei Allergien waren die Hauptgebiete von Frau Stern gewesen. Kreutz zuckte die Schultern und schniefte, als er das Wort Allergien las.

„Scheiß Birken”, murmelte er und fragte sich, ob Hypnose tatsächlich seine Beschwerden lindern würde. Jedenfalls nicht mehr mit Unterstützung von Frau Stern.

Konnte unter ihren Patienten jemand sein, mit der oder dem sie sich näher befasste? Hatte sie eine Beziehung zu einem oder einer ihrer Kunden und Kundinnen gehabt? Aber die unverheiratete und kinderlose Frau konnte ebenso im Kollegenkreis ihr Glück gefunden haben, oder bei jemand, der überhaupt nichts mit ihrem Beruf zu tun hatte. Das mussten sein Kollege Walter und auch Sandra Thaler, in seinem kleinen Team die Kommissar-Anwärterin im Praktikum, herausfinden. Und dann? Als einziges Indiz war bis jetzt das womöglich von einem Täter oder einer Täterin abgeschnittene Haar der Toten. Konkreteres dazu wird sich noch ergeben, glaubte Kriminalkommissar Kreutz aus seiner, wenn auch kurzen Erfahrung als Ermittler. Und was machte er dann mit diesem Glauben?

Er erinnerte sich an einen ähnlichen Vorfall, der sich im Herbst des Vorjahres zugetragen hatte. Der fünfzigjährige Markus Hirschbichler aus Bad Endorf, zwischen Rosenheim und dem Chiemsee gelegen, war auf dem etwa acht Kilometer langen Weg zum See mit dem Mountainbike gestürzt. Ein Ast, von dem noch ein dickes Stück zwischen den Speichen gesteckt hatte, hatte sich auf dem wenig frequentierten Waldweg im Vorderrad verfangen. Markus Hirschbichler war über den Lenker und in freiem Fall den dortigen Hang hinabgestürzt. Trotz Helm hatte er dabei so schwere Kopfverletzungen davongetragen, dass er nach vier Tagen im Koma im Krankenhaus verstorben war.

Damals waren ebenfalls und kurzzeitig Zweifel an einem Unfall aufgekommen. Spuren an der Absturzstelle hatten auf weitere anwesende Personen hingedeutet. Aber Hinterlassenschaften wie eine angerostete Bierdose, Rad- und sogar menschliche Kotspuren waren älter und vom Regen verwaschen gewesen.

Wie bei der Heilpraktikerin hatten sich Dr. Baumgartner und der Kommissar damals über den neuen, ungewöhnlichen Haarschnitt des Schwimmmeisters gewundert, den er sich womöglich selbst verpasst hatte. Die Bad Endorfer Therme hatte einen langjährigen Beschäftigten verloren. Seine Kollegen hatten ausgesagt, dass Markus öfter mal ein neues Outfit ausprobiert hätte. Trotz seiner fünfzig Jahre habe er sich den Mut zu unkonventioneller Privatkleidung und für strähnige Frisuren behalten. Während des Corona-Lockdowns, als alle Friseure geschlossen hatten, habe er sich freilich wie viele andere die Haare selbst geschnitten und das vielleicht danach beibehalten. Das hatte Kreutz damals als Erklärung genügt.

Dennoch …

Kreutz erinnerte sich, dass der Privatdetektiv Michael Warthens mit Markus H. befreundet gewesen war. Der Kommissar hatte den Rosenheimer Detektiv im November über die privaten Lebensumstände des Schwimmmeisters befragt. Er musste den Schnüffler noch einmal vorladen.

Jetzt aber waren Sandra und Walter am Zug. Siebzehn Frauen, vier Männer mussten befragt werden. Das konnte mal wieder dauern.

Kreutz zog die Tür der Praxis im Parterre des modernen Wohn- und Geschäftshauses in der Innenstadt von Rosenheim zu und klebte das polizeiliche Verschlusssiegel oberhalb der Türklinke an. Nach der kriminaltechnischen Spurensicherung durfte niemand, der nichts mit den Ermittlungen zum Todesfall der Heilpraktikerin zu tun hatte, deren Räume betreten.

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