Leseprobe – Im Kopf des Detektivs

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Hannover, Klinikum Siloah, Abteilung Anästhesiologie und operative Intensivmedizin.

Vorläufiger Bericht: Bei einem Undercover-Einsatz im Auftrag des Zentralen Kriminaldiensts wurde Michael W. durch einen Messerangriff lebensgefährlich verwundet.

Am 5. August wurde der Patient in ein künstliches Koma versetzt, um seine schweren Verletzungen zu heilen, Schmerzen auszuschalten und seine kardiologischen Werte stabil zu halten. Dabei ist u. a. gelungen, die Herzfrequenz und den Blutdruck auf einem gleichmäßigen Niveau zu halten. Seit knapp zwei Wochen befindet sich der Rosenheimer Privatdetektiv in diesem Zustand. Wann die Aufwachphase eingeleitet wird, entscheiden die Ärzte in diesen Stunden.

Privater Vermerk: Ob er dabei ins Hier und Jetzt zurückfindet, steht in den Sternen.

Dr. Bertram, KRH Klinikum Region Hannover

Plötzlich Tag

Mein Name ist Michael Warthens. Soweit schon mal gut. Bin ich wirklich sechzig Jahre alt? Glaub ich nicht, aber ich kann mich an diese Zahl erinnern. Gefeiert habe ich den Geburtstag nicht. Das wüsste ich. Das Alter ist ja sowieso egal.

Wie ich hierher komme, darauf habe ich keine Antwort. Ich sitze auf einem verrottenden Baumstumpf und schaue ins Tal. Im Schatten von Heuberg und Kranzhorn fließt der Inn träge auf Rosenheim zu, und auf der Inntal-Autobahn ist mal wieder Stau-Saison. Die Morgensonne scheint auf die Häuser von Brannenburg an den Ausläufern des Wendelsteins. Gerade noch kann ich Burg Falkenstein am Tor zum Tal oberhalb von Flintsbach erkennen.

Der Blick ist mir seit meiner Kindheit vertraut. Wie oft bin ich mit meinen Eltern diese Berge hinauf gelaufen, später als junger Mann mit meiner ersten Liebe, dann als Bankkaufmann und noch später, sehr viel später, als Privatdetektiv? Antwort: an tausend Tagen. Auch die Hochries, dieser Berg wie ein Satteldach geformt, sieht von hier heimelig aus und gibt mir das Gefühl, zu Hause zu sein. Hunderte Male stieg ich von der Startrampe dort mit meinem Flugdrachen in die Lüfte, beobachtete die sich langsam bewegenden Dinge von oben wie ein Bild von Google-Earth. Viel besser noch: wie ein lebendes Bild, real und ehrlich, ungeschminkt.

Nur, warum bin ich jetzt hier? Stürzte ich ab und kann mich an nichts erinnern? Mein Flugdrache ist nirgendwo zu sehen. Und ich bin schmerzfrei.

Was soll das also? Ich muss mich konzentrieren.

Was mache ich, außer Drachenfliegen? Ich ermittle als Privatdetektiv und verlange eine Menge Kohle von meinen Kunden und Auftraggebern, ein Job, der früher nicht so toll lief, weshalb ich … ja genau, meine Tante Berti anpumpen musste. Die alte Sennerin verbrachte hier viele Sommer. Vier- oder fünfhundert Höhenmeter weiter oben liegt die Alm, die sie einst bewirtschaftete. Sie ist viel zu alt und gebrechlich geworden, meine letzte noch lebende Verwandte. Manchmal kann sie ein regelrechter Drachen sein, und fliegen wäre mit diesem Tierchen nicht möglich. Ich glaube, ich mag sie trotzdem, oder gerade wegen ihrer forschen Art. Im Grunde ist sie eine herzensgute Seele. Mit ihrem Wissen über unsere Heimatstadt Rosenheim und die alten Zeiten, die manchmal nicht so gut waren, wie man sie in Erinnerung haben möchte, half sie mir oft bei meinen Aufträgen.

Na also, geht doch. Nur weiter. Zu Conny. Sie könnte sehr viel mehr sein in meinem, in unserem Leben, aber sie will nicht. Ich manchmal schon, dann wieder nicht. Wir sind fast gleich alt, zu alt für alberne Verliebtheit.

Trotzdem sind wir gerne zusammen. Meistens jedenfalls. Auch sie trug viel zur Aufklärung von Verbrechen bei. Mit ihrer feinfühligen Art, ihrer Menschenkenntnis und erstaunlichen Hellsichtigkeit ist sie so etwas wie das Gegenteil von Berti, der manchmal arg derben Nörglerin.

Das klappt ja ganz prima mit dem Erinnern. Nur sind das eben meine nächsten und liebsten Menschen. Die trägt man immer in sich mit, ob es einem schlecht oder gut geht. Wie es mir gerade geht, das liegt irgendwo dazwischen. Angst hält mich auf diesem Baumstumpf. Was, wenn ich mich bewege? Kann ich mich überhaupt bewegen?

Ich versuche es erst gar nicht. Das harte Holz unter meinem Hintern spüre ich seltsamerweise nicht, also können meine Arschmuskeln auch nicht einschlafen.

Wo war ich? Ach ja, bei meinen Damen. Einmal befreiten mich beide aus einem Kühlraum. Junge, das war eine Aktion damals. Die haben echt Courage. Ohne sie wäre ich jetzt sehr viel weiter oben als auf einem Berg oberhalb von Brannenburg. Dort, wo die weißesten Wolken der Welt über den tiefblauen Himmel ziehen. Na ja, oder sehr viel weiter unten, unterhalb der Erdkruste, wo es heiß wie die Sau ist, falls ich es verbockt haben sollte, zur Belohnung als Engelchen auf einem Wölkchen Hosianna zu singen.

Das Problem ist, ich weiß es eben nicht. Bin ich gut oder böse? Oh, jetzt fällt mir ein, dass ich trotz, oder sogar wegen meiner Arbeit als Privatdetektiv mal als ein schlimmer Finger angesehen wurde. Als Mörder. Das muss — scheiße, ich habe kein Zeitgefühl, kein Zeitgedächtnis. Nicht mal mein Handy habe ich bei mir, um nachzusehen. Vielleicht war es zwischen dem Fall, bei dem ich in einem Kühlraum eingesperrt war, und dem in Dings, in … in Hannover, glaube ich. Was hab ich denn da gemacht? Egal. Ich komme schon noch darauf.

Ameisen streben in Reih und Glied auf ihrer ganz eigenen Straße an meinem Baumstumpf vorbei. Mit Leichtigkeit überwinden sie meine Schuhe, blaue, abgelatschte Segeltuchschuhe, die für hier oben völlig ungeeignet sind. Warum trage ich sie dann? Meistens habe ich die doch an, wenn Hochsommer herrscht, in der Stadt auf heißen Pflastersteinen, oder am Ufer eines Sees. Dabei muss ich an eine glänzende Wasserfläche denken, an eine Wasserfontäne, finde aber — zumindest jetzt nicht — keine Erklärung dafür.

Die Ameisen jedenfalls tragen braune Tannen- oder Fichtennadeln, Stecknadelkopf große Blättchen und Dinge, die ich nicht zuordnen kann. Rechts von mir ist ihre Heimat, ein niedriger Haufen, der ganz sachte dampft, als glühe er tief in seinem Inneren. Es riecht nach Waldboden, erdig, nach Pilzen und trotzdem frühlingshaft frisch. Auf der Wiese etwas weiter unten blühen Maiglöckchen. Ihr süßes Aroma schwebt mit einem Hauch von Aufwind davon und mischt sich mit dem hier oben. Sofort ist das Bild wieder in meinem Kopf, das ich mit diesen Blumen verbinde.

Manchmal sind es Gerüche, die Erinnerungen zurückbringen. Mehr als Töne oder Bilder. Und an diesen Geruch kann ich mich sehr wohl sehr genau erinnern.

Der Fall Warthens – Im Süden

Der Blumenstrauß duftete intensiv nach Maiglöckchen. Dahinter verbarg sich das Gesicht einer jungen Frau. Das war mein erster Eindruck von Sarah. Wenn ich ihr später begegnete, wenn ich nur an sie dachte, roch ich Maiglöckchen. Ehrlich gesagt passte der Duft weniger zu ihr. Maiglöckchen sind Frühlingsblumen, Sarah selbst erinnerte mich eher an Herbst. Oder Winter, wenn ich mir ihre eisblauen Augen ohne die Stupsnase dazu vorstelle, ohne die leicht engelhaft gekringelten, mehlblonden schulterlangen Haare. Ihre helle Haut wurde nur am Hals von einem Daumennagel großen Muttermal gestört. Was heißt gestört? Früher sagte man Schönheitsfleck dazu, der meistens auf einer Wange oder über der Oberlippe zu sehen war. Sarah sah sehr hübsch aus, zweifelsohne auch deswegen, weil sie jung war, zwanzig damals, und sie lächelte mich über den bunten Strauß hinweg an. Zuckersüß, zu süß. Ich mag Süßigkeiten zwar kaum, aber das sollte mich nicht stören, ihren Auftrag anzunehmen. Eine harmlose Sache von Beschattung ihres Freundes, mit dem sie sich verloben wollte. So ein Treueprüfungs-Scheiß eben, den ich nie gerne mache. Doch Auftrag ist Auftrag, Geld ist Geld, und die Heizkostenabrechnung lag wie ein Mahnmal der fehlerhaften Sparsamkeit auf meinem Schreibtisch. Es ging mir finanziell gut, aber die Kaution für mein neues Büro hatte ein Loch in meinen Geldspeicher gerissen.

Wieso brachte sie mir Blumen? Üblicherweise nehme ich Geld für meine Dienste. Ich bat Sarah herein und ließ sie wissen, dass ich den Strauß als Anzahlung nicht akzeptierte.

„Der ist ja auch nicht für Sie“, amüsierte sich Sarah, „sondern für Ihre Frau. Ich dachte …“

„Falsch gedacht“, korrigierte ich die junge Frau in den hautengen Jeans. „Ist zwar nett, dass Sie gleich nach unserem ersten Telefongespräch so etwas Persönliches wie Blumen zu einem Geschäftstermin mitbringen. Aber das ist weder der Brauch, noch bin ich verheiratet oder lebe hier mit jemandem zusammen.“

Sarah sah sich um. Sie nickte.

„Das sieht man.“

Damals war ich gerade dabei, mein Büro am Ludwigsplatz in Rosenheim einzurichten. Meine Wohnung sah aus wie eine Mischung aus Studentenbude und Baustelle. Nicht alle Sachen, die ich ins Büro mitnehmen wollte, lagen bereits in Umzugskisten. Ihr Blick blieb am dem Halfter mit der Pistole hängen, für die man den kleinen Waffenschein braucht. Der ist nötig für Schreckschuss-, Reizstoff- und Signalwaffen. Meine Resi,(ich gab der Pistole wegen ihrer Harmlosigkeit den netten Namen), fällt unter die Kategorie Schreckschuss. Ich nahm Sarah den Blumenstrauß ab, und während ich vergeblich eine Vase suchte, schnappte sich Sarah meine Resi.

„Peng, peng“, machte sie und zielte auf mich.

Die spinnt wohl, dachte ich und sagte laut: „Legen Sie sofort die Waffe wieder zurück!“

Sie wusste ja nicht, dass Resi einen zwar gehörigen Knall von sich geben konnte, aber niemand töten. Wahrscheinlich hatte Sarah auch einen Knall, und der hätte mir bereits zu diesem Zeitpunkt auffallen sollen.

Sarah folgte artig und zog mit ihren feurig rot geschminkten Lippen einen gespielten Schmollmund, der sofort wieder verschwand, wie ich aus meinen Augenwinkeln beobachtete. Der Strauß musste ins Wasser, und ein besseres Gefäß als ein Weißbierglas fand ich auf die Schnelle nicht. Die durstigen Stinker war ich nun erstmal los, Sarah nicht.

Wir besprachen die Vorgehensweise der Beschattung ihres vielleicht baldigen Verlobten Tim, Timotheus van Damme, wohnhaft im Rosenheimer Süden in einer Villa am Kaltenbach. Alter 27, Beruf: Sohn, wie ich aus Sarahs Informationen über den Studenten mit Studien-Abbruch heraushörte. Also besaß er die dicke Kohle, auf die Sarah aus war. Sollte es ihr dabei nicht egal sein, ob der nach den Fotos zu urteilen zweifelsohne attraktive schwarzhaarige Kerl treu war? Und blieb? Noch waren sie weder verlobt noch verheiratet. Aber gut, ihre Sache. Ich nannte meinen Preis und wies auf eine spätere Spesenabrechnung hin, die eventuell anfallen konnte. Natürlich fiel die immer an, schließlich muss man von etwas leben.

Sarah zeigte sich mit allem einverstanden. Einen Bericht über die Ergebnisse sollte sie in etwa zwei Wochen bekommen. Am nächsten Samstag würde Tim eine Party steigen lassen, auf der Sarah nicht auftauchen würde. Irgendeine Ausrede würde ihr schon einfallen, sagte sie mit finsterer Miene.

Das Fest sollte im Freien stattfinden, am Haus von Tims Eltern, und dieser Garten sollte so groß sein wie ein Park.

*

Am nächsten Tag, einem sonnigen Maien-Donnerstag, machte ich mich zum ersten Mal auf den Weg dorthin. Hausnummer 212 gehörte eindeutig reichen Leuten. Ziemlich reichen. Phantastisch reichen.

Sämtliche Jalousien waren heruntergelassen, obwohl es elf Uhr vormittags war. Wahrscheinlich weilten die alten van Dammes gerade auf ihrer Finca auf Mallorca, oder in ihrem Waldschlösschen bei Monaco.

Von wo aus konnte ich den Garten gut beobachten? Die gegenüberliegende Seite war unbebaut, und die Fichten des Waldstücks waren hier noch nicht von Borkenkäfern befallen worden. Die Bäume standen also hoch und in Reihen und boten guten Sichtschutz. In meinem Alter hatte ich natürlich Probleme damit, auf Bäume zu klettern, aber ein nachlässiger Jäger hatte seinen Hochsitz im Zustand des Verfalls einfach stehen lassen. Eine morsche Sprosse der Leiter war bereits durchgebrochen, die anderen trugen mich ganz gut. Die Aussicht aus vier Metern Höhe war perfekt. Mit meiner braunen Hose und der blattgrünen Jacke ging ich, wenn ich still hielt, selbst als Baum durch, war also ganz gut getarnt.

Ein Blick durch meine Kamera, Zoom bis auf weniger als zwei Meter bis zum Ziel eingestellt, ließ keinen Zweifel aufkommen: wenn dort jenseits der Straße eine Party abging, konnte ich jede Augenfarbe der Teilnehmer benennen. Vorausgesetzt die Jalousien gingen irgendwann hoch, würde ich in einem Schlafzimmer quasi mit auf der Bettkante sitzen.

Ich probierte die eine oder andere Einstellung der Linse. Schließlich sollte ich Timmy in flagranti ertappen und Bilder von hoher Qualität liefern, falls er es wagte, Sarah zu hintergehen.

Ein leises Summen ließ mich aufhorchen. Bienen? Wespen? In der van Damme-Villa fuhr eine Jalousie im Obergeschoss hoch. Haben die Herrschaften ausgeschlafen, dachte ich noch, da stoppte ein lichtscheuer Bewohner den Elektromotor des schneeweißen Sichtschutzes. Ein Schatten hinter dem Fenster bewegte sich hektisch hin- und her. Nein, auf und ab. Ich holte alles aus meinem Zoom heraus. Sarah! Und sie benutzte kein Trampolin für ihre wippenden Bewegungen. Sie war nackt, und langsam wurde es mir peinlich. Wenn sie ihren Zukünftigen schon vor der Hochzeit völlig fertig machen wollte, wie es aussah, ging mich das nichts an.

Warum sie allerdings die Jalousie halb hochrollen ließen, war mir ein Rätsel. Vielleicht hatten sie in der Hitze des Gefechts die Fernbedienung versehentlich betätigt. Oder sie wollten sich ansehen beim … Damit war es sehr plötzlich vorbei. Ich war ja nicht persönlich neugierig, nur beruflich, und ich testete noch weitere Kameraeinstellungen, bei denen ich ab und zu, ups, versehentlich den Auslöser drückte. Sarah atmete schwer. Ihre Brust hob und senkte sich, als hätte sie alles gegeben. Sie verschwand aus meinem Blickfeld. Der Mann unter ihr — ich hatte bisweilen nur einmal seine Knie sehen können — erhob sich und schaute durchs Fenster. Konnte er mich sehen? Wohl kaum. Aber ich hatte ihn auf die Platte gebannt, wie man früher sagte. Er war keineswegs dieser Tim, dessen Fotos mir Sarah gezeigt hatte!

Zuhause wertete ich mein Bildmaterial aus. Diese Digitaldinger sind ja genial heutzutage. Wenn das Sarahs Timmy sein sollte, dessen Gesicht ich da so schön vergrößert erblickte, dann war er innerhalb eines Tages um dreißig Jahre gealtert.

*

Meine Internetrecherchen brachten zutage, was ich wissen wollte. Die van Dammes waren Herrscher über eine weltweit verbreitete Modekette. Sie besaßen Textilfabriken und Textilverarbeitungswerke in Indien, Bangladesch und Serbien. Ihre teuren Läden fand man in fast allen Metropolen der Welt, außer in Rosenheim. Hier wohnten sie nur, weil es im Chiemgau so schön ist. Sie hätten sich vielleicht auch am Chiemsee auf einem Seegrundstück einnisten können. Oder in einem Kaff am Samerberg, um den herrlichen Ausblick über das Alpenvorland zu genießen. Aber hier am Stadtrand von Rosenheim war es ja auch ganz nett, und womöglich besaßen sie dazu noch die genannten Domizile am See und auf den Hügeln.

Tims Party sollte nun hier in der Villa stattfinden. Gegen neunzehn Uhr bezog ich erneut Stellung auf meinem schon bekannten Hochsitz. Es war noch hell, und eine Horde junger Leute, zwanzig Stück etwa, scharte sich um einen riesigen gemauerten Grill, an dem sich ein als Koch verkleideter Herr zu schaffen machte. Dachte ich im ersten Moment. Natürlich grillten sie nicht selbst. Der Herr mit weißer Kochmütze war wohl ein Profi der Gastronomie, den Tim engagiert hatte. Er hantierte unfassbar geschickt mit den Grillutensilien, und der Geruch, der zu mir herüberzog, brachte meinen Magen zum Knurren. Wenn ich näher dran am Geschehen gewesen wäre, hätten die das hören können? Nein. Laute, fetzige Musik schallte aus mächtigen Boxen. Die Nachbarschaft hörte sicher gerne mit.

Ach ja, der, mit dem sich Sarah am Donnerstag vergnügt hatte, war übrigens Tims Vater. Die Pressefotos der Firma, die ich heruntergeladen hatte, zeigten ihn bei diversen Empfängen mit hoher Polit- und Kirchenprominenz. Ob der Kardinal ihm seinen Segen zum Vernaschen seiner künftigen Schwiegertochter gegeben hatte, ist nicht überliefert. Das sah auch eher danach aus, dass Sarah ihn vernascht hatte.

Sie ist schon ein Luder, oder? Da bestellt sie bei mir einen sündteuren Treuenachweis für ihren Tim, und sie selbst … Da kommt einem der Gedanke, dass Tims Papa, also Johannes Nikolaus van Damme, testen wollte, ob Sarah Irgendwer aus dem Volke gut genug für seines Sohnes Bettstatt wäre.

Sarah war tatsächlich nicht anwesend. Tim hätte also freie Bahn gehabt, um sich eines der flotten Mädels, die um den Grill tanzten, zu schnappen. Es war ja noch früh am Abend, aber wenn ich beobachtete, welche Unmengen an bestimmt nicht alkoholfreien Limonaden die sich einpfiffen, konnte die Fete bis spätestens Einbruch der Dunkelheit noch ziemlich hemmungslos werden.

Bis jetzt verlief sie: laaangweilig.

Ich ließ Tim nicht aus den Augen. Mein Zoomapparat folgte jedem seiner Schritte.

Sarahs Freund spielte den perfekten Gastgeber. Er plauderte mit jeder und jedem, lachte, schenkte Getränke nach und kasperte mit dem Grillmeister herum. Er setzte sich dessen Kochmütze auf, zog einen seiner Sneakers-Schuhe aus und tat so, als würde er ihn auf den Grill werfen. Große Heiterkeit brach deswegen unter den Gästen aus. In der Dämmerung erkannte ich trotzdem, dass die meisten lachten, weil sie es mussten. Höflichkeitslachen merkt man sofort an der Mimik und den reglosen Augen. Eine junge Dame war dabei, die nur schmunzelte, anstatt laut zu prusten, zu gackern und zu grölen wie alle anderen. Aha. Sie als einzige schien peinlich berührt von Tims Benehmen. Vielleicht war sie eine Verwandte? Eine Schwester von Tim? Sie besaß ebenso blonde, lange Haare wie Sarah, hatte eine tolle, sportlich-weibliche Figur und trug ein sittsames, bis über die Knie reichendes Kleid mit Rosenmuster, das an die Petticoats der Fünfzigerjahre erinnerte. Die anderen Mädchen hatten sich alle aufgebrezelt wie Topmodels. Kurze, schwarze Lederröckchen schien es im Sonderangebot gegeben zu haben. Womöglich gehörten die offenen Blusen und die Röckchen zur Kollektion der van Dammes. Man war schließlich bei den Königen der Modebranche eingeladen.

Blondinchen fiel aus dem Rahmen. Während Timmy-Boy im Mittelpunkt stand, ordnete sie sich eher unauffällig am Außenkreis der fröhlichen Runde ein. Ich betrachtete sie näher. Immer wieder fiel ihr Blick auf Tim, scheu und möglichst unauffällig. Dezent geschminkt war sie, ihre Lippen glänzten durch einen farblosen Lippenstift, und die Wimpern hatte sie offensichtlich doch mit Tusche verstärkt. Ja, meine Kamera sieht alles! Auch, dass Tim ihr keinerlei Beachtung schenkte. Obwohl außer Tim sieben andere junge Männer, alberne Jungs, im Verhältnis zu den dreizehn jungen Frauen in der Minderzahl waren, wuselte der Hühnerhaufen fast ausschließlich um Tim herum. Einige Jungen machten zwar mit, wahrscheinlich aus Gruppenzwang, oder aus Konkurrenz zum Gastgeber. Aber jeder kam nur kurz zum Zug. Machte der eine einen Scherz, setzte Tim sofort noch einen drauf und erntete die lauteren Lacher. Die Statisten lachten pflichtgemäß mit.

Die junge Frau mit dem Rosenkleid fühlte sich sichtlich unwohl. Als würde sie den ganzen Auflauf ihrer Altersgenossen am liebsten zum Teufel wünschen. Ab und zu drückte ihr finsterer Blick genau das aus, und jetzt wusste ich, woher sie mir so bekannt vorkam. Sie konnte eine Schwester von Sarah sein. O ja, hatte meine Klientin sie vorgeschickt? War sie außer mir eine zweite Spionin, die Tim im Auge behalten sollte? Ich hatte Sarah nur einmal, bei mir während unseres Geschäftstreffens gesehen, auch, nun ja, durchs Fenster bei einer amüsanten Tätigkeit mit Tims Papa, aber diese Ähnlichkeit war frappierend.

Der Gedanke kam mir, ob gar nicht Sarah mit Herrn van Damme Senior ins Bett gehüpft war, sondern diese schüchterne, zurückhaltende junge Dame? Ich muss zugeben, ich saß nun ein wenig verwirrt auf meinem Versteck im Wald. Was wurde hier gespielt? Ich legte meine Kamera zur Seite und dachte nach. Was, wenn das dort drüben Sarah selbst war? Wie sollte das mit meinem Auftrag zusammenpassen?

Erneut schaute ich durch die Optik meiner Kamera. Zoom, zoom, zoom.

Ich werde den Auftrag abbrechen, beschloss ich kurzerhand verärgert. Verarschen kann ich mich selbst. Schnell schoss ich noch ein paar Bilder. Dann stieg ich von meinem Hochsitz herab, eilte zu meinem zweihundert Meter entfernt geparkten Auto, damals noch einem alten Smart, und fuhr nach Hause.

Am nächsten Morgen, so gegen halb neun, stand die Polizei vor meiner Tür.

(…)

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