Die folgende Leseprobe umfasst die Kapitel 1 bis 8 von insgesamt 24 Kapiteln.
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1. KAPITEL
Weiß ragt der Arm hinter dem Kotflügel hervor. Regentropfen perlen über eine elfenbeinfeine
Hand, Knöchel vom Aufprall verschrammt, Nägel abgerissen. Nasser Asphalt reflektiert
Scheinwerferlicht. Wegen der dunklen Lackierung ist die schlanke Linie einer
Limousine gerade noch auszumachen. Im Dämmerlicht erscheint das Fahrzeug
substanzlos, als verfüge ein Zusammenprall mit ihm unmöglich über ausreichend
Wucht Schaden zu verursachen.
Der Motor ist verstummt. Regen klopft stetig auf das Blech, über die Windschutzscheibe
kratzen noch immer rhythmisch die Scheibenwischer. Jenseits des Fahrzeugs
klingt ein schwacher Laut, kaum wahrzunehmen hinter dem Klopfen. Starre Blicke
verfolgen die Spur des Blutes, das der Regen vom Stoßfänger auf den rauen
Straßenbelag wäscht, wo sich die roten Schlieren verlieren.
Die Fahrertür schlägt zu. Der Motor wird wieder angelassen.
*
Zeit ist vergangen. Im Dunkeln verlässt die junge Frau ein Haus. Auf den ersten Blick
fühlt man sich an eine Szene aus einer jener Fernsehsendungen erinnert, in
denen den Zuschauern Inszenierungen tatsächlich geschehener Verbrechen
dargeboten werden. Man sieht die junge Frau durch den Regen zu ihrem Auto laufen.
Es ist ein Sonnabend im Juni zu fortgeschrittener Stunde.
Wäre dies wirklich eine Filmszene, erhielte man vom Kommentator den Hinweis, der Abend
liege über zwanzig Jahre zurück. Es ist 22.45 Uhr.
*
Wenn es für Leute mit meinem Problem Selbsthilfegruppen gäbe, könnte ich mir sehr gut
vorstellen, wie mein erster Auftritt dort verliefe. Erst säße ich still dabei,
während andere sich vorstellten und über Fortschritte oder Rückfälle
berichteten. Fragte man schließlich nach neuen Besuchern, stünde ich auf. Ich
sähe in die Runde und sagte dann den Spruch, den ich zuvor tagelang vor dem
Badezimmerspiegel geübt hätte:
„Ich heiße Christa Hemmen, und in meinem Kleiderschrank wachsen frisch gebügelte weiße
Hemdblusen.“
Niemand würde lachen. Einige Anwesende würden lediglich mitfühlend nicken, andere
verständnisvoll lächeln. Von allen zusammen käme „Hallo, Christa“ in lautem
Chor, während ich ermattet auf meinen Stuhl zurücksänke, triumphierend jedoch
auch, denn ich hätte es endlich ausgesprochen.
Es ist tatsächlich so und es ist mir sehr peinlich. In meinem Kleiderschrank wachsen
weiße Hemdblusen, nicht im biologischen Sinne natürlich, aber ich habe offenbar
keinen Einfluss auf das, was in meinem Schrank geschieht. Als Schülerin deutete
sich das Problem zwar an, aber niemand, auch ich nicht, nahm die Anzeichen
ernst.
Im Zweifel konnte ich die Schuld an den gebügelten Hemdblusen, damals waren sie noch nicht
weiß, meiner Mutter zuschieben. Eine aktive Hauswirtschaftsleiterin als Mutter
bietet sich für solche Schuldzuweisungen an, und ich habe das Angebot ausgiebig
genutzt. Aber schon meine Studentenzeit war von der Befürchtung geprägt,
Besucher meines WGZimmers würden unbeobachtet meinen Schrank öffnen und die, zu
diesem Zeitpunkt bereits weißen Blusen entdecken.
Es ist ein merkwürdiges Phänomen. Nach einem Einkaufsbummel, sogar nach dem Shoppen, frage
ich mich wieder und wieder, wo die neuen weißen Hemdblusen herstammen. Ich
fürchte, wagte ich mich in den coolsten SzeneLaden, verwandelte sich das Teil
im aktuellsten Look und in der angesagtesten Farbe nach dem Bezahlen noch in
der Plastiktüte zu einer weißen Hemdbluse.
Wie viele Leute mit einem Problem habe ich mich im Laufe der Jahre damit arrangiert. Manchmal
wage ich die Hoffnung, dies sei der erste Schritt zur Heilung. Nachdem ich
nicht mehr lediglich Studentin, nicht einmal mehr nur Absolventin bin, fühle
ich mich in dieser Hinsicht recht optimistisch. Allerdings sehe ich weitere
Probleme vor mir. Mein neuer Arbeitsplatz in Wardenburg ist exakt zwei Komma
sieben acht Kilometer von meinem Elternhaus entfernt.
*
Um 22.55 Uhr fährt die junge Frau auf der Landstraße von Wardenburg Richtung Ahlhorn. Nur
wenige Autos sind unterwegs. Es regnet noch immer, sie fährt der Witterung
angemessen. Man sagt von ihr, sie sei eine umsichtige Fahrerin. Doch an diesem
Abend steht sie unter Zeitdruck, denn um 23.30 Uhr soll sie ihren Freund in
Ahlhorn abholen.
Der Regen wird gegen 23.05 Uhr dichter. Sie verlangsamt ihr Tempo. Da fällt ihr am Straßenrand
ein Mann auf. Normalerweise würde sie keinen Fremden mitnehmen, doch für diesen
hält sie an. Über ihre Gründe kann man nur spekulieren. Um 23.10 Uhr setzt sie
in Begleitung des Fremden die Fahrt fort.
*
Es ist meine erste eigene Wohnung. Natürlich habe ich als Studentin nicht zu Hause gewohnt,
achthundert Kilometer Distanz zur Universität erlauben das nicht, aber ein
Zimmer in einer Wohngemeinschaft ist nur bedingt ein eigenes Reich. Während
meines ersten Jobs habe ich das Zimmer beibehalten. Es passte zu dem Job und
der Abfolge befristeter Maßnahmen. Jetzt aber ziehe ich in eine eigene Wohnung.
Im Gegensatz zu meiner neuen Arbeitsstelle habe ich die Wohnung selbst gefunden. Die
Arbeitsstelle hat meine Mutter entdeckt und mich zum Bewerben genötigt. Dass
ich die Stelle sogar bekommen habe, mache ich ihr nicht zum Vorwurf, aber es
wurmt mich doch, es könnte eventuell der Eindruck entstanden sein, meine Mutter
regelte mein Leben.
Die leidigen weißen Hemdblusen kommen mir jetzt gelegen. Als ich letzte Woche meine Stelle
angetreten habe, begrüßte mich Frau von Geldern freundlich. Sie ist die
Geschäftsführerin von „Crea. Heim und Pflege“ in Wardenburg.
Alles an ihr ist groß. Sie hat einen langen Oberkörper und große Hände. Sie hat auch
ziemlich lange Beine, aber aus irgendeinem Grunde erinnern sie mehr an Säulen,
vielleicht weil man keine Konturen an den Waden oder Knöcheln sieht. Die Beine
gehen gerade vom Rocksaum hinab zu den großen Füßen, die in entsprechend großen
Schuhen ohne nennenswerten Absatz stecken. Das sieht standfest aus.
Standfestigkeit ist unentbehrlich für Geschäftsführerinnen.
Farblich sind die Schuhe immer auf den Rock abgestimmt. In den zehn Arbeitstagen, die ich bisher
mit Frau von Geldern verbracht habe, hat sie keinen Rock zweimal getragen, aber
vom Schnitt her ähneln sie sich alle. Immer sind es Faltenröcke in gedeckten
Farben, zu denen sie stets eine frisch gebügelte Hemdbluse trägt, mit
Perlenkette, denn sie ist die Geschäftsführerin. Ihr Kopf ist das einzige an
ihr, was man als klein bezeichnen könnte. Augen, Nase, Mund und Ohren finden
kaum genügend Platz daran, so dass die erschreckend krause Dauerwelle an der
Stirn bis über die Brillengläser fällt.
Auch wenn es diese Beschreibung nicht vermuten lässt, finde ich Frau von Geldern
sympathisch. Sie hat Verständnis für mein Problem, hält es sogar für einen
Vorteil. Nachdem sie mich am Montag vor einer Woche durch die Geschäftsräume
geführt und mir dann meinen Schreibtisch gezeigt hatte, schenkte sie mir eine
Tasse Tee ein.
„Ich bin sicher, wir werden gut miteinander auskommen“, teilte sie mir mit, indem sie
mir die Tasse reichte.
„Schon als ich Ihr Bewerbungsfoto gesehen habe, Frau Hemmen, wusste ich, dass Sie zu uns
passen werden. Sie haben so eine seriöse Ausstrahlung.“
Ich dankte ihr für den Tee und das Kompliment. Letzteres war für mich eine große Beruhigung.
Trotzdem braucht niemand davon zu erfahren, schon gar nicht meine jüngere
Schwester Heidi.
Heidi gehört nämlich nicht zu den Menschen, in deren Kleiderschränken weiße Hemdblusen
wachsen. Sie hat den Schick einer Frau aus der Waschmittelwerbung, keine glänzende
Stirn, die langen Haare in einem Naturton, den sich andere teuer erfärben
müssen, und immer adrett gekleidet. In den letzten Wochen trägt sie
auffälligere Farben und Schnitte. Auch ihre Bemerkungen zu meiner Garderobe
sind eine Spur bissiger geworden. Ich weiß, dass ich als Akademikerin und
ältere Schwester über Heidis Kommentaren stehen sollte. Es gelingt mir nur
nicht immer.
*
Um 23.14 zieht der Anhalter ein Messer und verlangt von der jungen Frau, sie solle in den
nächsten Feldweg abbiegen. Stattdessen beschleunigt sie. Vor sich sieht sie die
Rücklichter eines Wagens. Sie schlägt auf den Schalter der Warnblinkanlage und
überholt hupend. Das überholte Fahrzeug bremst und gerät von der Fahrbahn. Ein
weiteres Fahrzeug nähert sich der jungen Frau nun von vorne. Bei einem
Ausweichversuch kommt ihr Wagen ins Schleudern. Auch der Fahrer des entgegenkommenden
Autos bremst und rutscht auf der regennassen Fahrbahn in das Auto im Graben.
Währenddessen prallt die junge Frau gegen einen Baum. Sie selbst wird vor dem Lenkrad
eingeklemmt. Dem Anhalter gelingt es jedoch, die Beifahrertür zu öffnen. „Ich kriege
dich noch“, sind seine Abschiedsworte, ehe er zwischen den Bäumen in den Wald
verschwindet. Das Messer hat er mitgenommen, schließlich ist es sein Eigentum.
Die Uhr zeigt 23.19 an.
*
„Was haben Sie am Wochenende vor?“ fragte mich Frau von Geldern gestern Nachmittag, als ich in
der Teeküche die Spülmaschine ausräumte.
Diese Tätigkeit scheint entweder zu meinem oder zu Simones Arbeitsbereich zu gehören. Simone
ist die Bürofachkraft. Frau von Geldern hielt ihren Teebecher etwas unbeholfen
in der Hand. Sie war sich bewusst, den letzten Aufruf Simones, Becher und
Teller in die Spülmaschine zu räumen, überhört zu haben. Routiniert sortierte
ich das Besteck in den Schubladeneinsatz. Mir war in diesem Moment, als hätte
ich nie etwas Anderes getan. „Ich ziehe in meine neue Wohnung“, teilte ich ihr
mit.
Für mich war das ein wichtiger Schritt, nicht nur, weil es sich um meine erste eigene
Wohnung handelte. Seit vier Wochen wohnte ich bei meinen Eltern in meinem alten
Zimmer im stillen Tal, der Straße meiner Kindheit. Dieser Zustand musste
verändert werden. Noch vertrug ich mich mit meiner Mutter, aber es hatten sich
wieder alte Verhaltensweisen eingeschlichen.
Beispielsweise wusch sie meine Wäsche. Dagegen hatte ich nichts einzuwenden, wohl aber ärgerte
es mich, dass sie in meiner Abwesenheit in mein Zimmer ging, an meinen Blusen
roch und entschied, ob sie gewaschen werden mussten, und auch sorgfältig die
Taschen meiner Hosen ausleerte, ehe sie sie in die Waschmaschine beförderte.
Das war entwürdigend und wurde keineswegs besser, wenn meine Mutter ein
gelassenes „Aber immerhin sind deine Sachen jetzt wieder sauber“ an ihre
Entschuldigung anhängte.
Frau von Geldern stellte eilig ihren Becher in die ausgeräumte Spülmaschine.
„Oh, das wird dann ja ein arbeitsreiches Wochenende, Frau Hemmen. Ist die Wohnung in
Wardenburg?“ Ich bestätigte beides und kämpfte den Impuls nieder, ihren Becher
herauszunehmen und von Hand zu spülen, ehe er in der feuchtwarmen Spülmaschine
bis zum Montag verschimmelte. Solche Impulse quälen wahrscheinlich jede Tochter
einer Hauswirtschaftsleiterin. Diesmal siegte meine Faulheit. Ich sammelte aber
die Geschirrhandtücher ein, die ich unbedingt zu Hause bei meiner Mutter
waschen wollte, und knipste das Licht in der Teeküche aus.
Frau von Geldern schlenderte hinter mir bis zu meiner Bürotür.
„Ich hoffe doch, Sie haben genügend Hilfskräfte für den Umzug.“
Ich beruhigte sie, fragte mich aber, weshalb sie das wissen wollte. Vielleicht hoffte sie auf
einen Hinweis, ob mein Freund mich unterstützen würde. Da ich keinen Freund
hatte, musste ich auf meinen Vater zurückgreifen. Das brauchte Frau von Geldern
jedoch nicht zu wissen.
Gemeinsam stiegen wir die Treppe zur Friedrichstraße hinunter. Durch das Schaufenster von
„Crea. Heim und Pflege“ sahen wir in das Büro des Pflegedienstes, wo eine in
den CreaFarben Beige, Grün und Blau uniformierte Frau die Stühle auf die
Schreibtische stellte. Frau von Geldern klopfte an die Scheibe und winkte. Die
Frau fuhr zusammen, sah, wer geklopft hatte, und winkte gequält zurück.
Nach einem letzten „Schönes Wochenende“ stieg Frau von Geldern in ihre silbergraue
Limousine. Ich ging weiter die Friedrichstraße entlang bis zu dem weißen
Wohnblock, der zu meiner Zeit als graues Gebäude die Postfiliale beherbergt
hatte. In den Jahren meiner Abwesenheit war die Post ausgezogen, und man hatte
das Haus modernisiert. Jetzt wohnte Heidi in einer der Wohnungen, Luftlinie
dreihundertfünfzig Meter zu ihrem Arbeitsplatz.
Diese Nähe ihrer Wohnung zu ihrem Schreibtisch in der Zentrale eines
Personaldienstleisters wurde meine Mutter nicht müde hervorzuheben.
Anstrengungen jeglicher Art waren von Heidi fernzuhalten, und so hatte sie für
sie diese Wohnung gefunden. Anders als ich wusste Heidi den Tatendrang unseres
Elternteils zu schätzen, zumindest äußerte sie nie den Vorwurf, sie könne die
Aufgaben, die ihr abgenommen wurden, selbst erledigen.
Mein Auto stand in Heidis Hof geparkt. Heidi hatte den Hausmeister, der ihr nichts abschlagen
konnte, über unsere Verabredung informiert. Im Hof hinter „Crea. Heim und
Pflege“ war kaum Platz, weil die Wagen des Pflegedienstes sich dort beinahe
stapelten. Die fünfzig Meter bis zu Heidis Hof konnte ich leicht bewältigen.
Automatisch sah ich an der Fassade hoch. In ihrem Badezimmer war ein Fenster gekippt, aber dies
war kein verlässlicher Hinweis darauf, ob sie sich in der Wohnung aufhielte.
Diese Wohnung lag so, dass weder von der Straße noch vom Dach her Eindringlinge
zu befürchten waren. Deshalb ließ Heidi alle Fenster auch in Abwesenheit
offenstehen.
Nach kurzem Zögern ging ich direkt zu meinem Auto. Die letzten zwei Tage war sie auf einer
Fortbildung gewesen. Auch wenn sie schon zurück sein sollte, konnte ich an diesem
Nachmittag auf Heidis entspannte Kritik verzichten. Lieber wollte ich meine
restlichen Sachen packen.
Als ich in das stille Tal kam, herrschte dort Freitagnachmittagsruhe. Kinder wohnten derzeit
nicht in der Straße, die südlich vom Abzweig Wikingerstraße von der Oldenburger
Straße abging und nach einer Haarnadelkurve wieder darauf zurückführte. Einige
Leute arbeiteten in ihren Rabatten.
Der Garten von Frerk Deepken war zugewuchert. Seine Brombeerhecke bedeckte mittlerweile fast
alles, woran sie sich hochranken konnte. Alle paar Monate kam Frerks Sohn, um
den Vater in der Justizvollzugsanstalt, wo er wegen der Brandstiftung am
Bergerschen Haus einsaß, zu besuchen. Dann mähte er auch den Rasen am Haus.
Meistens blieb er nur eine Nacht. Die Nachbarn ließen ihn in Ruhe. Es war allen
unangenehm, einen Brandstifter in ihrer Mitte gehabt zu haben. Nun mieden sie
das Haus und den Sohn.
Wann immer ich Frerk Deepkens Haus sah, erfüllte mich Bitterkeit. Ich gab mir die Schuld, das
Feuer im Nachbarhaus nicht frühzeitig bemerkt zu haben, und fühlte mich mitverantwortlich
für den Tod von sechs Menschen. Rational war diesem Gefühl nicht zu begegnen.
Ich hatte es mit einer Ortsveränderung versucht, aber auch die Jahre meiner
Abwesenheit hatten die Eindrücke kaum gemildert.
Zumindest erinnerte im stillen Tal nichts mehr an das Bergersche Haus. Auf dem Grundstück
waren vier Einfamilienhäuser errichtet worden, in denen nun ein älteres Ehepaar,
eine alleinstehende Dame jenseits der Fünfzig, ein junger Mann mit sehr
schlanker Freundin, die beide nie da waren, und eine Frau mit ihren zwei
erwachsenen Söhnen wohnten. Von meinem Zimmer aus sah ich nicht mehr das
Reetdachhaus des alten Herrn Berger, auch nicht mehr die geschwärzten Mauern
seiner Ruine. Hellgelber Putz und blau lackierte Dachziegel, davor grüner
Rasen, Kirschlorbeer und Geranien lachten im Sonnenlicht zu mir herüber. Die
neuen Nachbarn passten gut ins stille Tal.
2. KAPITEL
Von den Feldern her zieht Nebel in die Gärten. Dumpf liegt die Herbstnacht auf feuchtem Laub.
Es raschelt in den schwarzen Stängeln der Astern, und ein Igel quert vom Beet
über das Gras zur Hecke. Irgendwo in den Bäumen schreit eine Eule.
In den Häusern ringsum sind alle Fenster dunkel. Nur wenige haben noch die Außenbeleuchtung
angeschaltet. An ein, zwei Stellen ist das Licht einer Straßenlaterne vorne an
der Straße zu sehen. Bewegungsmelder sind in diesen Jahren noch kaum
verbreitet. Man riecht überreifes Obst.
Etwas Größeres raschelt. Zweige neigen sich unter dem Gewicht ihres neuen Schmucks. An
Drahtschlingen hängen kleine Formen, dunkel und still wie übergroße Tannenzapfen,
aber ohne deren resinösen Duft. Die genaue Anzahl ist nicht zu erkennen. Man
muss wissen, wie viele davon in der glitschigen Plastiktasche steckten.
Wieder fällt Ruhe in den Garten. Nichts regt sich, auch als ein größerer Schatten hinter dem
Apfelbaum hervortritt. Nur ein schmatzendes Geräusch zeigt an, dass der
Schatten zu einem Körper gehört, der Spuren auf dem Fallobst hinterlassen wird.
Doch ansonsten fast geräuschlos überwindet jemand den Zaun. Kein Hund schlägt
an. In dieser Nachbarschaft hält man Katzen.
Der Schatten bewegt sich bis unter den Balkon. Ein Blumenkübel steht günstig platziert und
erleichtert den Aufstieg. Nur leise klingt das Metallgestänge der
Balkonbrüstung, als sich ein schwerer Körper darüber wuchtet. Danach ist alles
still. In der Ferne passiert ein spätes Auto die Landstraße.
Der Schatten hält inne, kommt zu Atem, reibt die Hände in den Lederhandschuhen, die etwas zu
knapp sitzen. Vorsichtig nimmt er den Rucksack vom Rücken. Aus der Vordertasche
holt er ein Werkzeug. Metall blitzt auf. Das Hauptfach wird nun geöffnet. Darin
regt sich etwas. Plastikfolie knistert, als eine Einkaufstasche
auseinandergezogen wird.
Dann greift der Schatten hinein und zieht etwas Kleines, Lebendiges heraus. Es zappelt und gibt
leise Laute von sich, doch die wird man im Haus nicht beachten. Zu viele ähnliche
Laute klingen durch den Nebel von Feldern und Hecken in den Garten. Der
Schatten hält das Wesen am ausgestreckten Arm, mit der anderen Hand werden
Einkaufstasche und Rucksack zusammengeschoben. Dann blitzt kurz das metallene
Werkzeug auf. Ein langgezogener Laut, ein krampfhaftes Zappeln folgen. Der
Schatten wartet, bis das Zappeln nachlässt, dann legt er das blutende Bündel
vor die verschlossene Balkontür.
Minuten später ist er im Nebel verschwunden. Bis zum Morgen ist das Blut getrocknet.
*
Vom Oldenburger Einrichtungshaus nach Wardenburg fuhren wir im Konvoi, sofern ein Konvoi aus
nur drei Autos bestehen kann. Hinten in meinem Wagen lagen Kartons dicht
gepackt. Der Innenraum roch nach Holz. Mein Vater fuhr mit dem Anhänger voraus,
dahinter folgte sein bester Kumpel in einem vollgestopften Kombi. Gefunden
hatte ich die Wohnung ohne meine Mutter, zum Möbeltransport brauchte ich aber
meinen Vater.
Am Ortsausgang Oldenburg in Kreyenbrück trennte uns das Rotlicht, aber wir hatten vereinbart,
dass wir in so einem Fall nicht auf die abgeschnittenen Autos warten wollten.
Das Gespann meines Vaters mit dem gemieteten Anhänger und Andy Vosgeraus Kombi
verließen die Stadt Richtung Tungeln, während ich an der Ampel hinterher sah.
Natürlich war das nicht tragisch. Ich kannte den Weg, und vor allem steckte der
Wohnungsschlüssel in meiner Tasche.
Das Haus meiner Eltern im stillen Tal liegt genau an der Kehre der Haarnadelkurve. Den Bogen,
den der Patenbergsweg beschreibt, könnte man allenfalls mit einer stark
verbogenen Haarnadel vergleichen, tatsächlich aber verlässt er die Oldenburger
Straße im Ortskern, führt an Kirche und Friedhof und weiter an älteren und
neueren Häusern vorbei, ehe er einen weiten Bogen vollführt und hinter dem Ortsschild
wieder auf die Oldenburger Straße trifft. Meine Wohnung lag im ersten Haus
hinter dem Bogen. Solche Wohnsituationen schienen mich anzuziehen. Ich glaube,
zur Zeit seiner Erbauung war es das letzte Gebäude an dieser Seite von
Wardenburg, denn die Häuser in der kleinen an dieser Stelle abgehenden Straße
Im Orthbruch sind alle jüngeren Datums.
Als ich das Haus erreichte, lehnte Andy neben dem heruntergelassenen Fenster meines Vaters.
Er winkte mir und schüttelte den Kopf zu meinem Vater, ehe er sich von dessen
Wagentür wegstemmte und auf mich zu schlenderte. „Wir dachten schon, du hättest
uns zur falschen Adresse geschickt, Christa“, grinste er, worauf ich nur den
Kopf schüttelte. Dann führte ich die beiden hinauf in die Wohnung, wo sie sich
gnädigerweise beeindruckt zeigten.
„So viel Platz brauchst du allein doch gar nicht“ stellte Andy fest. „Da kommt doch sicher
bald jemand mit rein, was? Vielleicht mit tränenverhangenen Augen aus
Süddeutschland?“
Ich schüttelte den Kopf, während mein Vater fragte, wieso jemand mit tränenverhangenen Augen
aus Süddeutschland kommend in diese Wohnung ziehen sollte. Andy lachte.
„Guck dir deine Tochter an, Jörn. Das Mädel sieht doch so aus, als hätte es da unten zahlreiche
Herzen gebrochen.“
Mein Vater musterte mich eher misstrauisch als skeptisch. Von Auszubildenden in dem
Restaurant, wo er als Koch arbeitete, wusste er, dass treuen Blicken nicht zu
trauen war, aber bei mir ging er von einem untadeligen Lebenswandel aus. Anders
als meine Mutter sehnte er sich nicht nach adretten Schwiegersöhnen. Ich war
seine große Christa, mit der er wichtige Dinge besprechen konnte. Schwiegersohnanwärter
störten dabei nur.
Ich dagegen seufzte betont laut, als hätte Andy etwas sehr Dummes gesagt, und verdrehte
demonstrativ die Augen. Damit war mein Vater beruhigt, und Andy, der natürlich
kein Wort ernst gemeint hatte, lachte schallend. Nachdem ich beiden versichert
hatte, die Wohnung sei für mich allein nicht zu groß, tatsächlich war sie zehn
Quadratmeter kleiner als Heidis, die ebenfalls allein lebte, schleppten wir die
Möbelteile nach oben.
Bis Sonntagnachmittag waren Wohn und Schlafzimmer aufgebaut, und in der Küche
hingen die Oberschränke ordentlich über den Unterschränken. Was fehlte, waren
die Elektrogeräte, die in den nächsten Tagen geliefert werden sollten. Einen
Telefonanschluss hatte ich auch noch nicht, der Antrag war in Bearbeitung, aber
eigentlich sah ich nicht ein, wozu ich einen Festnetzanschluss benötigte, wenn
ich ein Handy hatte. Meine Eltern hatten mich dazu gedrängt, und Andy hatte
gesagt, es wäre aus polizeilicher Sicht besser, was ich ihm weder glaubte noch
nachvollziehen konnte, mich aber endgültig nachgeben ließ.
Meine Mutter hatte die Wohnung einer Grundreinigung unterzogen. Als schließlich abzusehen
war, dass die Arbeiten vorläufig beendet wären, traf Heidi ein. Sie machte
nicht einmal den Versuch der Rechtfertigung sondern stellte nur eine Schüssel
Nudelsalat auf den von mir zusammengebauten und von meiner Mutter abgewischten
Küchentisch.
„Nudelsalat? Selbstgemacht? Und das trotz deiner Fortbildung? Oh, Heidi“, sagte meine
Mutter, indem sie die Mischung mit hochgezogenen Brauen in Augenschein nahm.
An Heidi gerichtet war dies ein eindeutiges Lob, was Heidi natürlich wusste, denn sie
lächelte zufrieden. Wären die Worte meiner Mutter an mich gewandt gewesen,
hätte ich mich kritisiert gefühlt. So aber bereiteten wir Tee zu und setzten
uns um den Küchentisch, wo wir Heidis Nudelsalat unter weiteren Lobessprüchen
verzehrten.
Ich möchte festhalten, dass meine Schwester keineswegs eine herausragende Köchin ist. Aber
ihr Salat war gemessen an vielen Nudelsalaten in Deutschland erstklassig und
verdiente Lob, wenn auch nicht die Hymnen meiner Eltern und Andys.
Während wir noch am Tisch saßen, klingelte es. Im Treppenhaus stand Sandra Menserhagen.
Mein erster Gedanke war, sie wolle sich wegen des Einzugslärms am Sonntag
beschweren, schließlich bewohnte meine Vermieterin die Erdgeschosswohnung. Doch
Frau Menserhagen fühlte sich nicht gestört.
„Es war jetzt so lange ruhig, da dachte ich, Sie machen eine Pause. Ich wollte Ihnen einen
kleinen Willkommensgruß …“
Verlegen hielt sie mir einen Kuchen entgegen. Ich hatte Frau Menserhagen von unserer ersten
Begegnung an nett gefunden. Sie wirkte stets um das Beste bemüht, und immer ein
klein wenig so, als gehörte sie nicht völlig in diese Welt. Früher bezeichnete
man Frauen dieses Typs als alte Jungfer. Mir erschien sie tatsächlich alt,
weshalb ich sie, obwohl sie offensichtlich jünger als meine Eltern war, wie
eine fragile ältere Person behandelte.
Mit ihrem Kuchen in der Hand lud ich sie ein, sich in der Wohnung umzusehen. Das lehnte
sie ab, aber ich konnte sie überreden, einen Tee mit uns zu trinken. In der
Küche waren meine Umzugshelfer von ihrem Erscheinen überrascht, machten aber
erfreut Platz für einen weiteren Stuhl.
Nachdem sie eine Tasse Tee getrunken hatte, überredete meine Mutter Frau Menserhagen doch
noch, die halb eingerichtete Wohnung zu besichtigen. In der Zwischenzeit wusch
ich mit Heidi das Geschirr ab. Auf dem Weg ins Badezimmer hörte ich dann mit
an, wie meine Mutter im Wohnzimmer über weitere Einrichtungspläne referierte.
„Blaue Gardinen, dachte ich. Das wäre ein schöner Kontrast zum Laminat. Das hat einen
herrlich warmen Ton. Ziemlich neu, nicht wahr?“
Ich verdrehte die Augen. Unsichtbar für mich gab Frau Menserhagen ihre Antwort.
„Etwa zwei Jahre. Vorher lag hier Teppichboden, aber …der musste raus.“
„Teppichboden ist schwer zu reinigen. Manche Flecken wie Blut oder Rotwein gehen fast gar
nicht raus. Da kann man machen, was man will.“
„Ja … ja, natürlich“, stimmte Frau Menserhagen mit diesem für sie typischen Zögern zu.
Vielleicht empfand sie Flecken im Teppich als etwas sehr Persönliches, über das
man nicht mit Fremden diskutierte.
Ich betrat nun das Bad. Als ich zurückkam, standen die beiden immer noch an der Balkontür.
„Und natürlich die Ruhe“, hörte ich meine Mutter. „Christa wird beruflich viel unterwegs sein.
Bei diesem Stress tut es ihr gut, dass es hier so ruhig ist. Und mit den
Sicherungen an Fenstern und Türen muss sie sich keine Sorgen wegen ungebetener
Besucher machen.“
„Ungebeten? Oh, Sie meinen Einbrecher?“
„Ja, natürlich. Was sonst?“
„Was sonst? Ach, sicher nicht. Das heißt, hoffentlich nicht. Man kann nie wissen.“
Kopfschüttelnd ging ich ins Schlafzimmer, wo Heidi mein Bett bezogen hatte.
„Du brauchst eine größere Bettdecke“, teilte sie mir mit.
Optimistisch hatte ich ein Doppelbett angeschafft. Die zweite Matratze war lediglich mit einem
Spannbetttuch bezogen. Das Gesamtbild wurde dadurch etwas unausgeglichen.
„Ja. Aber das Bett war erst einmal wichtiger.“
„Und dann brauchst du alle Garnituren zweimal. Es sieht so furchtbar aus, wenn zwei
verschiedene Garnituren auf einem Bett sind.“
Misstrauisch musterte ich sie. Natürlich waren wir keine Teenager mehr, aber bei Heidi
kämpfte ich noch sehr mit der Vorstellung, sie könnte mit einem Mann das Bett
auch zum Schlafen teilen. Heidi bemerkte meinen Blick und strich sich
automatisch eine Strähne aus den Augen.
„Was denn?“ fragte sie gereizt.
„Hast du einen neuen Freund?“ verlangte ich zu wissen. Sie hob die Schultern.
„Und wenn?“
„Dann hätte er hier helfen können. Wäre doch eine gute Gelegenheit gewesen, sich bei den
Eltern positiv einzuführen.“
Erstaunlicherweise warf Heidi mir nicht vor, ich würde nur an mich denken, wie sie es sonst so oft
tut. Stattdessen betrachtete sie mit gerunzelter Stirn meine Handtuchstapel,
die drauf warteten, in den Schrank geräumt zu werden.
„Ach, ich weiß nicht. Vati war schon immer so anti mit den Jungs. Und socialnetworking war nie
seine Stärke“, murmelte sie, während ich sie verblüfft anstarrte. Eilig sah sie
auf die Uhr.
„Ich muss weg. Ich habe noch etwas vor.“ Nun war ich beleidigt, hielt sie aber nicht auf.
Heidi eilte aus der Wohnung. In der Küche versicherte Andy Vosgerau gerade seiner Frau, er
werde im Laufe der nächsten halben Stunde nach Hause kommen. Als ich die Wohnungstür
hinter Heidi schloss, kam er in den Flur, das Handy noch in der Hand.
„Christa, ich fahre jetzt auch. Du hast das Chaos ja gut im Griff, so wie immer.“
Ich bedankte mich noch einmal für seine Hilfe. Währenddessen kam meine Mutter mit Frau
Menserhagen aus dem Wohnzimmer. Einen Moment lang musterte Frau Menserhagen
Andy, ehe sie verkündete, sie dürfe mich nicht länger aufhalten. Da sie die
ganze Zeit mit meiner Mutter geredet hatte, fand ich die Bemerkung unpassend.
Nachdem sie mir nochmals die Hand geschüttelt hatte, ging sie die steile Treppe
hinunter.
Gleich darauf folgte ihr Andy. Mein Vater winkte ihm vom Küchenfenster aus nach, dann drehte
er sich zu mir um.
„Das war also deine Vermieterin. Nett, eigentlich. Wie heißt sie noch?“
Meine Mutter war ebenfalls in die Küche gekommen.
„Menserhagen. Das war Sandra Menserhagen, Jörn.“ Er schüttelte den Kopf.
„Woher kenne ich den Namen, Kati?“ Meine Mutter seufzte ganz leise, ich bin sicher, nur ich
konnte es hören.
„Ihr Vater war der Inhaber von Menserhagen Bau in Oberlethe.“
Menserhagen Bau hatte die vier Einfamilienhäuser auf dem Grundstück des niedergebrannten
Nachbarhauses errichtet. Über ein halbes Jahr hatte mein Vater vom
Küchenfenster auf das Bauschild gesehen. Jetzt dämmerte auch seine Erinnerung.
„Klar doch. Aber war der Inhaber nicht jemand anders? Da stand ein anderer Name … Warte
… Irgendwas Priem, oder? Walter Priem, ja?“
Meine Mutter hob laut die Schultern, eine Angewohnheit, die auch echter Resignation noch
eine Spur Aggressivität verlieh.
„Kann sein, Jörn. Der Menserhagen ist schon ein paar Jahre tot.“
Sie schwieg nachdenklich, dabei sah sie sich um, ob es noch etwas in der Wohnung zu
erledigen gäbe. Aber ehe sie die Gardinen genäht hätte, bliebe für sie nichts
mehr zu tun. Auch für meinen Vater sah sie keine weiteren Aufgaben. Also gab
sie ihm ein Zeichen und sie verabschiedeten sich.
Mitten in der Diele blieb sie plötzlich stehen.
„Hast du etwas vergessen, Mutti?“ fragte ich. Meine Mutter schüttelte den Kopf.
„Kurt. Kurt Menserhagen“, sagte sie triumphierend. Mein Vater und ich sahen sie an.
„Wer?“ fragte ich dann, als sie nicht weitersprach.
„Kurt Menserhagen. Ich kannte einen mit dem Namen am Technischen Gymnasium in
Oldenburg.“
„Und wer ist das? Der Vater von Christas Frau Menserhagen kann er schlecht sein, Kati.“
Meine Mutter warf ihm einen wissenden Blick zu, als wolle sie anzeigen,
durchaus verstanden zu haben, was er meinte. Dann hob sie für ihre Verhältnisse
leise die Schultern.
„Nein. Natürlich war das nicht Frau Menserhagens Vater. Sie ist ja etwa in unserem
Alter.“
Meine Eltern waren so alt, dass sie Leute, die fünf Jahre jünger oder älter waren als sie
unter diesem Ausdruck zusammenfassten. Aus meiner Sicht fiel Sandra Menserhagen
noch nicht in die Kategorie.
„Wieso kanntest du Leute vom Technischen Gymnasium, Mutti? Du warst doch am Hauswirtschaftsgymnasium“, wandte ich ein, als ob mit diesem Argument die Beziehungen meiner Mutter zu der anderen Lehranstalt gekappt werden könnten. Ungerührt sah sie mich an.
„Das schon, Christa. Aber du vergisst, dass ich ein Leben vor deinem Vater hatte. Mein
damaliger Freund war am Technischen Gymnasium. Und da hing er mit einem Kurt
Menserhagen herum. Das muss ja kein Verwandter von deiner Frau Menserhagen
sein.“
„Nein, wahrscheinlich nicht“, beeilte sich mein Vater zu sagen und drängte seine Frau
aus der Wohnung. Erst dachte ich, er wäre aus irgendwelchen Gründen ärgerlich,
aber unten am Auto sah ich sie miteinander lachen.
3. KAPITEL
Am Montag war Herr Meinert aus dem Urlaub zurück und wurde mir vorgestellt. „Ach, du bist die
neue Kollegin“, folgerte er aus der Tatsache, dass es vor drei Wochen in seinem
Büro noch keinen zweiten Schreibtisch gegeben hatte. „Harald Meinert. Sag Harry
zu mir.“ Ich versprach es.
Harry war eine bemerkenswerte Erscheinung, und das nicht nur im Kontrast zu Frau von Geldern,
die an diesem Tag den elften Faltenrock ohne Wiederholung in Folge auftrug.
Mittelgroß traf ziemlich genau seine Körperlänge, und hager beschrieb den
Eindruck, den seine Statur erweckte, obschon seine Schultern nicht in dieses
Bild passen wollten. Die waren extrem breit, so dass ein größerer Mann sie
vorteilhafter hätte tragen können. Weil er mit dieser Verteilung
berechtigterweise unzufrieden war, trug er seine Haare lang, und zwar in einer
Art fest verwobenen trapezförmigen Block, der von seinen Augenbrauen bis zu den
Schulterblättern reichte. Selbst bei stärkstem Wind geriet das Trapez kaum in
Bewegung.
Ob in seiner lange zurückliegenden Faustballerkarriere auch schon diese kompakte Masse starr
auf seinem Rücken geruht hatte, verriet er mir nicht, aber ich versuchte
natürlich, es mir auszumalen.
Interessanterweise schwitzte Harry Meinert nie. Wir trafen Mitte Juni aufeinander, und außerhalb
der klimatisierten Geschäftsstelle war es sehr warm, an manchen Tagen sogar
unbestreitbar heiß. Auf Harrys Stirn glänzte nie eine Schweißperle, seine
Hemden, die ihm bis auf den Schulterbereich zu groß waren, wiesen unter den
widrigsten Bedingungen keine feuchten Stellen auf. Nach Arbeitstagen, an denen
er ausschließlich unter stärkster Sonnenbestrahlung von Wohnobjekt zu
Wohnobjekt gefahren war, ging von ihm lediglich ein leichter Estragongeruch
aus.
Sprachen Heidi und ich über Harry Meinert, nannten wir ihn den coolen Harry, denn zweifelsohne
konnte man diesen Mann nur als cool im wahrsten Wortsinne bezeichnen.
Hätte es Unternehmen wie „Crea. Heim und Pflege“ schon in der Jugend meiner Eltern
gegeben, wären Harrys und meine Positionen nicht mit studiertem Personal
besetzt worden. Heutzutage existierten zahlreiche solcher Firmen, und
Tätigkeiten, für die man vor zwanzig Jahren Fachkräfte mit Realschulabschluss
eingestellt hätte, vergab man zum gleichen Tarif an Akademiker, denn die können
Anliegen angeblich besser kommunizieren.
Harry leitete den Wohndienst von „Crea. Heim und Pflege“. Damit war er nicht mein
Vorgesetzter, eher, wie Frau von Geldern in eindringlichem Ton zu uns beiden
sagte, ein erfahrener Kollege, der mir die benötigten Räumlichkeiten beschrieb,
die ich dann akquirieren würde. Dabei könne Harry mir zunächst noch zur Seite
stehen, ebenso bei der Abwicklung von Umbauarbeiten, insbesondere derer, die er
selbst in Auftrag gegeben hatte. Harry zwinkerte mir zu und versprach Frau von
Geldern, mich nicht als seine Azubine zu behandeln. „Ach, Sie wissen doch, dass
ich dieses Wort nicht mag“, entgegnete die und ließ uns alleine.
„Weiß der Himmel, was die von mir denkt“, sagte Harry zu mir. Er stellte ein paar Fragen
zu meiner Herkunft und meiner Berufserfahrung. „Das ist ja ein ganz schöner
Schritt, von einer Bildungsmaßnahme im Knast zur Akquise von Wohnungen für BestAger
und Pflegebedürftige“, stellte er dann fest. Ich nickte zustimmend. Man konnte
bei objektiver Betrachtung verstehen, weshalb meine Mutter die lokalen
Stellenangebote sämtlicher Medien durchforstet hatte. Sie hätte alles getan, um
mich aus dem Knast zu holen. Aber natürlich verriet ich Harry nicht, wer mich
auf die Ausschreibung bei „Crea. Heim und Pflege“ aufmerksam gemacht hatte.
Zusammen gingen wir die laufenden Renovierungsmaßnahmen durch. Bisher hatte ich wenig
unternehmen können, weil Harry als alter Einzelkämpfer niemandem Einsicht in
seinen Arbeitsbereich gewährt hatte, niemand mich also hatte einarbeiten
können. Nun ging es los, und ich war froh, wenigstens den Umzug hinter mich
gebracht zu haben, denn die nächsten Wochen verbrachte ich fast ausschließlich
im Auto und in Wohnungen, die „Crea. Heim und Pflege“ angeschafft hatte und nun
in Hinblick auf die Bedürfnisse bewegungseingeschränkter Menschen umbaute.
*
Zügig rollt der Verkehr auf Sage zu, ebenso zügig rollen weitere Autos in die entgegengesetzte
Richtung nach Wardenburg und weiter in die Großstadt Oldenburg. Auch am
längsten Tag des Jahres ist die Dämmerung schon gefallen. Scheinwerfer werfen
breite Lichtkegel auf die Fahrbahn. Daneben liegen die Seitenstreifen im
Dunkeln. Gegenüber, hinter einer Hecke, leuchten gelb die Fenster eines Hauses.
Von diesem Standpunkt aus sind sie nicht in ihrer Gesamtheit einsehbar, doch bekanntlich
sind es drei beiderseits der Eingangstür mit hohem runden Bogen, sieben im
ersten Stock, sieben im zweiten. Dort oben sind drei erleuchtet, im ersten
zwei. Früher war es umgekehrt. Früher war es oben meist dunkel, früher war der
ganze erste Stock erleuchtet.
Früher war eine andere Zeit.
Unter schweren Schritten knirscht Sand. Säße jetzt neben dem Fahrer des vorbeifahrenden Autos
ein Beifahrer, und hielte der es für lohnend, zwischen die fast unsichtbaren
Stämme der Bäume zu starren, dann sähe er vielleicht dunkle Bewegung vor
tieferem Schatten. Doch die Silhouette vor den Scheinwerfern eines
dahinterfahrenden Autos zeigt nur einen einsamen Fahrer, der schon mit dem
nächsten Wimpernschlag aus Sicht und außer Reichweite ist.
Zeit ist vergangen. Kein Auto ist nun mehr auf der Straße zu sehen. Jetzt hört man nur
den Wind in Baumwipfeln und gedämpfte Schritte auf dem Asphalt, als jemand
eilig die Fahrbahn überquert. Hinter der Hecke sind Geräusche aus dem Haus zu
vernehmen. Musik klingt hinter gekippten Fenstern, vor denen Fliegennetze
wehen. Vorhänge hindern die Sicht in den Raum.
Unter leisestmöglichem Knirschen gehen Schritte zur Tür und hinauf auf Stufen aus
Beton. Eine Hand testet den Türgriff, doch wie erwartet ist die Tür abgeschlossen.
Sie ist immer abgeschlossen, frühere Versuche haben das oft genug bewiesen.
Früher schon kam man nur unter Klingeln ins Haus.
Die Schritte entfernen sich. Später wird man drei zusammengebundene rote Rosen auf der
Treppe finden. Die Überraschung hielte sich in Grenzen, man wäre nur zum
wiederholten Male verwundert. Wie jedes Mal enden die Blumen im Abfall.
*
Ich hatte eine Wohnung in Sandkrug besichtigt und nach Harrys Spezifikationen auf ihre Eignung
überprüft. Er suchte händeringend eine Unterkunft für eine bestehende
Wohngruppe, die wegen fortschreitender Gebrechlichkeit nicht in den jetzigen
Räumen bleiben konnte. Erste Angehörige sprachen bereits davon, ihre Verwandten
anderwärtig unterzubringen. Ich war mit dem Objekt nicht zufrieden gewesen,
glaubte auch sicher, Harry wäre es nicht, hätte er das Treppenhaus gesehen.
Allmählich sah ich Probleme für diese Wohngruppe.
Ehe ich nach Wardenburg zurückfuhr, holte ich mir bei einem Verbrauchermarkt an der
Sandkruger Straße mein Mittagessen, bestehend aus abgepackten Croissants, einem
Apfel und einer Flasche Wasser. Über die Sandkruger Straße wäre ich schnell in
Wardenburg und könnte Harry Bericht erstatten, aber der aß mittags immer bei
dem DönerImbiss an der Oldenburger Straße, gleich bei „Crea. Heim und Pflege“
um die Ecke, und wollte sich dann, wie er täglich betonte, nicht aufregen. Also
konnte ich mir Zeit lassen.
Ich verstaute Croissants und Apfel im Kofferraum neben einer Kiste mit den Unterlagen für die
Umbauprojekte, die ich an diesem Vormittag besucht hatte. Die Flasche hielt ich
mir kurz an die Wange. Angenehm fühlte sich der Kunststoff auf meiner Haut an,
obwohl die Flasche nicht im Kühlregal gestanden hatte. In meinem trockenen Mund
schmeckte das Wasser frisch. Gierig trank ich ein paar Schlucke und spürte
erleichtert dem Weg des Getränks von meinem Mund durch den Hals nach.
Aus diesem meditativen Akt schreckten mich Stimmen auf. Langsam öffnete ich die Augen und
nahm die Flasche vom Mund. Um mich herum beluden Kunden des Verbrauchermarktes
ihre Autos mit Lebensmitteln. Zwei Parklücken weiter stand ein älterer Kleinbus
in staubigem Rot. Die hintere Tür war aufgeschoben. Von meinem Platz aus sah
ich in seinem Innenraum zahlreiche Kartons und Kisten. Gerade packte ein Mann
eine weitere Kiste dazu.
„Das war die letzte“, hörte ich ihn sagen. Jemand kletterte aus dem Innenraum auf den
Parkplatz und schloss die Schiebetür.
„Danke für Ihre Hilfe“, sagte die Person. Der Mann wischte sich über die Stirn. Ich konnte
sehen, wie vor seinen Ohren Schweiß den Hals hinunter lief.
„Kein Problem, Frau Muh. Schönen Tag noch.“ Die Frau ging um das Auto herum zur Fahrertür.
Gleich darauf fädelte sich der Wagen in die Reihe der Autos an der Abfahrt ein.
Reglos stand ich an meinem offenen Kofferraum. Beinahe wäre mir die Flasche entglitten.
Inzwischen war der Mann fort, ich hatte nicht sehen können, wohin er gegangen
war oder ob seine Kleidung ihn als Mitarbeiter einer der Firmen rund um den
Parkplatz auswies. Aber in dem roten Kleinbus, der gerade links auf die
Sandkruger Straße abbog und Richtung Bahnhof fuhr, hatte eine Muh gesessen. Ihr
Gesicht hatte ich nicht sehen können, nur den Namen gehört und ihre Stimme.
Es musste Bea Muh sein, eine der beiden Überlebenden aus der Familie, die im Bergerschen Haus
an Rauchvergiftung umgekommen war.
4. KAPITEL
Als ich an diesem Abend nach Hause kam, war es schon spät. In der Wohnung konnte man vor
Hitze kaum atmen. Ich öffnete alle Fenster und die Balkontür. Draußen war es
windstill. Von den Bäumen und Hecken hörte man kein Rauschen. Nur langsam ging
der Temperaturausgleich zwischen der nach gemähtem Heu duftenden Außenluft und
meiner Wohnung vonstatten. Ich duschte, zog ein leichtes Baumwollkleid über und
setzte mich auf den Balkon. Essen mochte ich nichts. Es war zu heiß, ich war
erschöpft und gleichzeitig aufgewühlt.
Mit der Arbeit hatte diese Unruhe wenig zu tun. Von dem ungewohnt vielen Fahren war ich zwar
müde, auch kreisten dort die vielen Fakten, die ich im Kopf behalten musste,
und schienen mit ihrer Bewegung meinen Körper zu lähmen. Aber diese Lähmung und
dieses Kreisen bildeten nur den Hintergrund für einen Gedanken, der sich seit
dem Mittag mit zunehmender Aufdringlichkeit in alle meine Überlegungen drängte.
Bea Muh war wieder da. Dabei wusste ich gar nicht, ob sie es selbst gewesen war, denn Muhs
sehen alle ziemlich ähnlich aus und tragen den gleichen Namen. Aber es musste
und konnte nur Bea gewesen sein. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit nicht hoch
war, entsprach es melodramatischer Logik, dass sie zurück an den Ort käme, an
dem sie fast ihre gesamte Familie durch zwei Verbrechen verloren hatte.
Mein letzter Blick auf sie war, wie sie vor mir aus dem Krankenwagen stieg und in einen Raum
geführt wurde. Mich hatte man in einen anderen Raum gebracht. Danach hatte ich
nur noch kurz vor dem Brandanschlag durch mein Fenster gesehen, wie das
Familienauto vom Hof rollte, als, wie ich vermutete, Bea und ihre Schwester zum
Zentrum Muh nach Nideggen fuhren.
Lange hatte ich an der Hoffnung festgehalten, einmal noch würde ich Gelegenheit finden, mit ihr
zu reden und mich zu vergewissern, dass wir dasselbe erlebt hatten. Nie hatte
ich jedoch etwas von ihr oder der Gemeinschaft Muh gesehen oder gehört. In
Wardenburg, in Landkreis und Stadt Oldenburg, in der Umgebung meines
Studienorts, nirgendwo schien es Muh zu geben.
Manchmal war ich auf die Internetseite des Zentrums Muh in Nideggen gegangen. Lange fand man
da lediglich eine Webvisitenkarte, die das Bild eines grauen Hauses und
spärliche Kontaktdaten aufzuweisen hatte, bis dort vor ein paar Jahren eine
Seite entstand, von der aus man sich einloggen konnte. Passwörter erhielten die
Mitglieder der Gemeinschaft vermutlich auf anderem Wege, denn Hinweise, wie so
ein Passwort anzufordern sei, existierten nicht.
Danach hatte ich es aufgegeben. Ich hatte mich ermahnt, nicht länger in die Vergangenheit zu
starren, und weil mir von klein auf Pragmatismus vorgelebt worden war, hatte
ich mein Denken auf die Zukunft ausgerichtet. Bea und der Mord an Herrn Muh,
der alles in Gang gesetzt hatte, und die Entführung von Beas Schwester Greta
und Heidi und schließlich der Brandanschlag durch Frerk Deepken, all das trat
wie von selbst in den Hintergrund meines aktuellen Lebens.
Eines Tages war ich soweit zu glauben, das Geschehene wäre vorbei und erledigt, umgewandelt zu
einer Erfahrung, aus der ich gereift und gefestigt hervorgegangen wäre. Die
Fehler von damals würde ich nie wieder begehen. Davon war ich überzeugt
gewesen.
Nun, nach nur einem flüchtigen Blick auf eine Frau, die Bea hätte sein können, nach nur einem
aufgeschnappten Satz, brach alles hinter dem Verschlag in meinem Kopf hervor.
Zwischen die Daten und Fakten meiner Arbeit rutschten Erinnerungsfetzen. Alles
drehte und vermengte sich selbsttätig zu einem unentwirrbaren Knäuel völlig
unzusammenhängender und außerdem lärmender Bilder, aus dem die Flammen über dem
brennenden Bergerschen Haus zu lodern schienen.
Für Augenblicke vergaß ich völlig, wo ich mich befand. Als ich zu mir kam, waren meine Hände zu
Fäusten geballt und meine Augen brannten. Irritiert sah ich mich um. Was mich
aufgeschreckt hatte, konnte ich nicht erkennen, aber ich war froh, dass das
Durcheinander in meinem Kopf verstummt war. An der Wohnungstür klingelte es,
vermutlich nicht zum ersten Mal. Ich stolperte durch die halbdunkle Wohnung und
öffnete die Tür zu dem von blendend hellem Licht erfülltem Treppenhaus.
Vor mir stand Frau Menserhagen. Erschrocken starrte ich sie an. Halb war mir bewusst, dass
ich wahrscheinlich keinen repräsentablen Anblick bot, doch das konnte ich nicht
ändern. Tatsächlich musterte sie mich ein wenig bestürzt. Aber vielleicht
unterstellte Frau Menserhagen mir einfach eine Allergie, denn sie unterließ
Anspielungen auf mein geschwollenes Gesicht.
„Entschuldigung, Frau Hemmen. Ich wollte auch nicht stören. Ich weiß, Sie hatten einen langen
Arbeitstag. Aber es ist dunkel, und Ihre Fenster stehen offen. Das ist
gefährlich. Eine junge, alleinstehende Frau wie Sie …“
Solche Fürsorge kam unerwartet.
„Danke“, stammelte ich. „Ich war eingeschlafen.“ Als ich mich das sagen hörte, glaubte
ich es sofort. Ich musste eingeschlafen sein. Kämen mir solche Bilder in wachem
Zustand, wäre das nicht gut.
„Danke, Frau Menserhagen. Ich werde die Fenster schließen, sonst kommen auch die Mücken
herein.“
„Ja“, sagte sie. Dann schien sie sich aufzuraffen. Ein vorsichtiges Lächeln erschien auf
ihrem Gesicht. Sofort wirkte sie jünger und, so hart es klingen mag, weniger
irre.
„Sicher haben Sie auch noch nichts gegessen. Vielleicht möchten Sie bei mir eine Kleinigkeit
zu sich nehmen? Ich würde mich über Gesellschaft freuen. Natürlich nur, wenn
Sie möchten.“ Das tat ich definitiv nicht. Ich wollte an diesem Abend nichts
mit ihr oder irgendeiner anderen Person zu tun haben, sondern schlafen und
weder an die Arbeit noch an Bea denken müssen.
Aber dann meldete mein Magen doch noch ein Nahrungsbedürfnis, und mein Gehirn teilte mir mit,
dass sich nichts sofort Verzehrbares im Kühlschrank befinde. Also nahm ich die
Einladung an und ging, nachdem ich pflichtschuldigst alle Fenster geschlossen
und gesichert hatte, hinunter in die andere Wohnung.
Sandra Menserhagen lebte seit dem Tod ihrer Eltern allein, wie sie mir berichtete,
während sie den Tisch deckte. Ursprünglich hatte sie die Oberwohnung bewohnt,
ihre Eltern hatten unten gelebt. Zunächst war sie oben wohnen geblieben, hatte
sich jedoch kürzlich entschieden, nach unten zu ziehen und die obere Wohnung zu
vermieten.
„Aus gesundheitlichen Gründen kann ich nicht mehr so viel arbeiten. Da kommen die
Mieteinnahmen gelegen.“
Nervös spielte sie mit ihrer Gabel. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Miete einen
auch nur partiellen Lohnausfall ausgleichen würde, nickte aber, als hielte ich
alles für nachvollziehbar.
„Was arbeiten Sie denn?“ wollte ich von ihr wissen, denn sie war morgens, wenn ich ging, im
Haus und auch, wenn ich abends kam.
„Ich bin selbstständige Buchhalterin. Da arbeite ich von zu Hause aus. Hauptsächlich
kümmere ich mich um die Firma meines Vaters, das heißt, seine frühere Firma.
Menserhagen Bau. Ich weiß nicht, ob Sie davon gehört haben. Der Sitz ist in
Oberlethe. Walter, das ist Walter Priem, bringt mir die Unterlagen. Und dann
habe ich noch andere Kunden, kleinere Geschäfte und Handwerksbetriebe, ein paar
Landwirte und so. Normalerweise bringen auch die mir ihre Unterlagen. Und manchmal
fahre ich hin zu den Kunden. Aber in der Regel nicht.“
Anstrengend konnte die Arbeit nicht sein, zumal sie anscheinend kaum das Haus verließ. Aber
vielleicht war das schon ein Hinweis auf ihre gesundheitlichen Probleme,
vielleicht wirkte sie einfach deshalb so zerbrechlich, weil sie krank war.
Sofort fiel ich in meine Rolle als vernünftige Christa. Ich lächelte und nickte aufmunternd,
und niemand in ihrem Alter, der sich nicht seiner Einschränkungen bewusst gewesen
wäre, hätte meinen salbungsvollen Gesichtsausdruck toleriert.
Sandra Menserhagen tolerierte ihn nicht nur, sie sprach weiter, als wäre ich ihre
Supervisorin.
„Es ist auch gut, wenn abends jemand im Haus ist. Man weiß nie. Sie müssen mir versprechen,
die Fenster immer zu sichern. Hinter dem Haus ist es so dunkel. Auf die Bewegungsmelder
kann man sich hier nicht verlassen. Und gleich hinter dem Garten beginnt das
Feld. Also, bitte, denken Sie an die Fenstersicherungen.“
Ich versprach es. Von oben hörte ich mein Handy klingeln. Ich bedankte mich für das
Abendessen und lief hinauf in meine Wohnung.
*
Bis ich das Handy auf dem Wohnzimmertisch erreicht hatte, war das Klingeln längst
verstummt. Die Anruferin war meine Mutter gewesen. Ich rief sie sofort zurück.
„Wo warst du?“ verlangte sie zu wissen.
Bei dieser Frage muss man mehreres bedenken. Sie war meine Mutter, ich ihre Tochter, die,
wie mir sehr bewusst war, die Mitte des dritten Lebensjahrzehnts erreicht
hatte. Vor mehr als fünf Jahren war ich zu Hause ausgezogen, hatte jetzt, nach
einem kurzen Zwischenspiel in meinem Kinderzimmer, eine eigene Wohnung, die ich
selbst unterhielt. Trotzdem fragte meine Mutter, wieso ich nicht beim ersten
Klingelton das Gespräch angenommen hatte, und ich antwortete trotz gesträubter
Nackenhaare brav:
„Ich war unten bei Frau Menserhagen. Sie hatte mich zum Essen eingeladen.“
„Oh, wie nett“, sagte meine Mutter, als wäre Sandra Menserhagen eine robuste Landfrau, die mich
armes überarbeitetes Hühnchen unter ihre Fittiche genommen hätte.
Ehe ich eine Entgegnung machen konnte, redete sie weiter.
„Bist du morgen Abend zu Hause, Christa? Ich habe mit Andy geredet. Er will sich deine
Fenstersicherungen ansehen und prüfen, ob es nichts Besseres gibt.“
Verblüfft starrte ich auf die dunkle Glasscheibe vor mir, von der mich mein Spiegelbild
überrascht ansah. Meine Fenster schienen viele Menschen als potentielle
Gefahrenquelle wahrzunehmen. Da ich meine Mutter kannte und wusste, dass ich
ihr in solchen Diskussionen allenfalls von Angesicht zu Angesicht gewachsen
war, sagte ich ihr, Andy könne gerne kommen, aber bitte nicht vor acht Uhr.
Genervt öffnete ich die Tür und trat ungeachtet aller möglichen Risiken auf den Balkon. Die
Abendluft strich seidenweich über mein Gesicht. Als Kinder im stillen Tal
hatten Heidi und ich in solchen Nächten draußen geschlafen. Seinerzeit hatte
sich niemand darüber aufgeregt, aber seitdem war auch im stillen Tal zu viel
geschehen, was solche Vorhaben von Anfang an ausschloss.
An der Grenze zum Feld raschelte es. An diesem Morgen hatte ich dort eine Ricke mit zwei
Kitzen beobachtet. Vielleicht führte sie ihre Kinder zum Abendessen aus.
Seufzend ging ich hinein, verriegelte die Balkontür und zog die Vorhänge zu.
Eine halbe Stunde später schlief ich.
5. KAPITEL
Am Morgen putzte Sandra Menserhagen die Fenster. Meine Mutter nutzte für so anstrengende
Tätigkeiten ebenfalls die kühlen Stunden, aber sie machte dabei stets ein
entschlossenes Gesicht, nicht solch eine Leidensmiene. Nun waren Menschen
jedoch verschieden, und wenn Sandras selbstständige Arbeit von zu Hause aus
gesundheitliche Gründe hatte, gar auf Rückenproblemen beruhte, dann fielen ihr
Hausarbeiten wie Fensterputzen sicherlich schwer.
Ich war schon zu meinem Auto, das auf dem Grünstreifen zwischen Gartenzaun und Fahrbahn
abgestellt war, gegangen, als ich noch einmal umkehrte. Beim Klang meiner
Schritte fuhr sie herum.
„Tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken, Sandra.“
Gestern Abend hatte sie mir das Du angeboten, womit ich mich unwohl fühlte. Das Du schien
persönliche Verpflichtungen für mich zu beinhalten, änderte aber nichts daran,
dass Sandra weiterhin meine Vermieterin war.
Als ich mich ihr jetzt näherte, warf sie hastig den Putzlappen über den Eimer, als befände
sich darin etwas Anstößiges statt gewöhnlicher Lauge.
„Nein, ja … Hallo, Christa.“
Über meine Schulter sah sie die Straße hinauf und hinunter. Ein paar Häuser weiter hängte
ein Mann sein Jackett am Bügel an einen Haltegriff im Fond, ehe er in weißen
Hemdsärmeln zur Arbeit fuhr. Auch ich trug eine adrette weiße Bluse mit halbem
Arm, die mich in meinem Empfinden wie mindestens Dreißig aussehen ließ.
„Schon so fleißig am frühen Morgen?“ erkundigte ich mich. Sandra nickte.
„Ja, ja, denn … noch ist es kühl. Kühler jedenfalls.“ Sie sah zum tiefblauen Himmel, über
den bereits die Sonne wanderte.
„Ich muss jetzt los, Sandra. Schönen Tag noch.“ Mit diesen Worten wandte ich mich zum Gehen.
„Hast du gut geschlafen? Keine … keine Ablenkung?“ Ich drehte mich halb um.
„Ablenkung?“ Sie sah wieder zum Himmel.
„Wegen der Hitze, meine ich.“
„Nein, eigentlich nicht“, erwiderte ich verwundert. Dann fiel mir der Anruf meiner
Mutter ein.
„Ach, heute Abend kommt ein Freund meines Vaters. Der, der auch beim Umzug geholfen hat.
Der ist Polizist und will sich die Sicherungen an den Fenstern ansehen. Falls
es bessere Lösungen gibt. Das wäre doch okay? Neue Sicherungen, oder?“
„Ja, ja, klar. Äh, Christa? Polizist? Oh, das ist gut … Das ist gut. Gut.“
Für einen Moment war ich wirklich besorgt. Dann schnappte sie sich den Eimer und lief zur
Hausecke.
„Ein Vogel ist gegen die Terrassentür geflogen. Armes Ding.“
Ich sah ihr mit gemischten Gefühlen nach, besann mich aber, und fuhr zur Friedrichstraße.
*
Der allergrößte Vorteil meiner Wohnung ist die Nähe zu „Crea. Heim und Pflege“. Wenn es reine
Bürotage gäbe, oder auch nur die Gewissheit, es stünde immer ein Dienstwagen
bereit, könnte ich mit dem Fahrrad fahren. Sogar zu Fuß bräuchte ich
wahrscheinlich kaum mehr als eine Viertelstunde. So rollte ich in einem der
Spielstraße gemäßem Tempo vom Patenbergsweg in den Brooklandsweg, wo der
rechtwinklig von der Oldenburger Straße zur Friedrichstraße abknickt. Dann ging
es links nach Wardenburg hinein, und schon war ich an meinem üblichen Parkplatz
bei Heidis Haus.
Auch Sandra Menserhagens Vater muss den kurzen Weg zu seiner Firma in Oberlethe geschätzt
haben. Er wäre am Ende des Brooklandswegs einfach rechts abgebogen und bald
darauf in Oberlethe gewesen. Wo genau dort sich die Firma befand, weiß ich
immer noch nicht, aber meine Mutter sagt, ganz nah am Ortseingang.
Aufgrund der kurzen Entfernung zu „Crea. Heim und Pflege“ hätte ich auch später losfahren
können. Noch jedoch fand ich es von Vorteil, früh im Büro zu sein. Dann konnte
ich in Ruhe die eingegangenen EMails durchsehen, schriftliche Anfragen nach den
Konditionen für eine Wohnung aufnehmen und meine Notizen von den Außenterminen
aufarbeiten. Wenn Harry kam, war es mit dem konzentrierten Arbeiten erst einmal
vorbei, und ab halb neun Uhr leitete die Frau unten im Kundenzentrum Anrufer
nach oben weiter.
So war ich auch an diesem Tag lange vor acht Uhr in der Friedrichstraße. Einen Schlüssel für die
Vordertür hatte ich noch nicht bekommen, obgleich Frau von Geldern regelmäßig
versprach, einen beim Vermieter anzufordern. Aus diesem Grunde ging ich über
den Hof durch das Reich des Pflegedienstes. Dessen Kundenzentrum hinter dem
Schaufenster öffnete gegen halb neun, aber die Pflegerinnen flogen ab sechs Uhr
ein und aus, so dass hinten immer schon offen war, wenn ich eintraf.
Ich überquerte den Hof, wo acht Autos mit „Crea. Heim und Pflege“Aufdruck standen, und betrat
den mit hellblauem Linoleum ausgelegten Flur. An den Wänden zeigten blaue und
grüne Querstreifen auf beigefarbenem Grund, dass man sich auf „Crea. Heim und
Pflege“Territorium befand.
Der Geruch hier unten war ungewöhnlich und mir nach wie vor fremd. Man ging durch eine
Geruchsschicht Autowerkstatt, dann durch eine Schicht Café, und kam in einen Bereich,
der von einer Mischung dieser Gerüche und zusätzlich Apothekengeruch erfüllt
war. Dort befanden sich außer dem Kundenzentrum und dem Büro des
Pflegedienstleiters die Material und Medikamentenkammern und auch das Besprechungszimmer.
In der Mitte, wo der Kaffeehausduft am ausgeprägtesten war, lagen Teeküche und Sozialraum der
Pflegerinnen. Etwa zehn von denen saßen dort trotz der frühen Stunde laut
schwatzend zusammen und warteten auf den Beginn der Morgenbesprechung. Mich
ignorierten die Frauen in der adretten Tracht bestehend aus weißer Hose und
weißem Kasack mit „Crea. Heim und Pflege“Farbstreifen von der rechten
Schulternaht bis zum Saum. Ich war eine von „oben“ und gehörte nicht zu dem
auserwählten Zirkel um Ernst Loga.
Der begegnete mir vor der Tür zum Treppenhaus. Wie bei den meisten Frauen schlug auch mein
Herz jedes Mal etwas schneller, wenn der Pflegedienstleister von „Crea. Heim
und Pflege“ auftrat. Ernst Loga sah aus, als sei er direkt einem amerikanischen
Hochglanzfilm über das Leben in den Provinzen entstiegen. Darin verkörperte er
eindeutig die Rolle des guten Rebellen, der die geplagte Heldin von Kummer und
Konventionen erlöst und ihr am Ende auch noch ein sicheres Heim bietet.
Es ist schwer zu beschreiben, was Ernst so bemerkenswert machte. Natürlich waren Männer im
Pflegebereich Exoten, bei „Crea. Heim und Pflege“ gab es nur Ernst, der deshalb
beinahe zwangsläufig zum Bereichsleiter und Objekt weiblicher Bewunderung
avanciert war.
Auffallend groß war er nicht, gerade so, dass die meisten Frauen ein klein wenig zu ihm
aufsehen mussten. Die weiße Tracht umspielte seinen Körper, als handelte es
sich nicht um ein gestärktes LeinenBaumwollgemisch sondern dicke sandgewaschene
Seide. Zum Weiß der Arbeitskleidung hob sich das Braun seiner Haut ab, aber er
sah nie so aus, als hätte seine Bräune etwas mit UVLicht gleich welcher Quelle
zu tun. In gewisser Weise wirkte er wie zu diesem Ton gebacken und erinnerte
mich in der Mittagszeit manchmal an Butterkekse. Was die Frauen in seiner
Umgebung aber endgültig in den Bann schlug, waren die kristallblauen Augen
unter einer, hoffentlich, naturblondgestreiften Mähne, die den gesamten
Arbeitstag über wie vom Präriewind gezaust aussah.
Wie ihm dies gelang, konnte auch Heidi mir nicht verraten. Sie traf ihn in den Pausen
manchmal beim Bäcker und behauptete, dass, wenn Ernst Loga dort Kuchen für
seine Damen abholte, die Finger der Verkäuferin über den Tasten der
Registrierkasse zitterten. Auch Klienten, Patienten gab es bei „Crea. Heim und
Pflege“ nicht, und deren Angehörigen betrachteten einen Besuch von Ernst Loga
als Höhepunkt des Tages, und sogar die fahlen Wangen von Frau von Geldern
färbten sich bei einer Begegnung mit ihm pink.
Harry Meinert verabscheute ihn übrigens, was durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte. Für mich
war es jedoch ein Bonus, Ernst so früh am Morgen treffen zu dürfen. Ich genoss
seinen adretten Anblick, wie ich ihn im Fernsehen genossen hätte, erwiderte
sein „Guten Morgen“ und schwebte die Treppe hinauf in mein Büro.
Auf meinem Anrufbeantworter war der Anruf einer Firma für Treppenlifte. Ich machte eine
Notiz, seufzte und fragte mich, ob ich diese Arbeit den Rest meines Lebens
ausüben wollte. Bei meiner ersten Stelle war die Frage niemals aufgekommen.
Nicht nur, dass man ein sehr spezieller Mensch sein muss, der freiwillig in
einer Justizvollzugsanstalt arbeitete, mein Vertrag war sowieso befristet
gewesen. Aber jetzt bei „Crea. Heim und Pflege“ musste ich die Möglichkeit ins
Auge fassen, über vierzig Jahre an diesem Schreibtisch zu sitzen,
beziehungsweise Wohnobjekte abzufahren. Anschließend könnte ich wahrscheinlich
direkt in eine von „Crea. Heim und Pflege“ betreute Wohnung ziehen.
Anderen Leuten stellte sich diese Frage vielleicht gar nicht. Ich dachte an meine Eltern, an
Andy und Heidi, und auch in dieses Grübeln schlich sich Bea. Eine Muh ist in
erster Linie Muh, lebt für die Gemeinschaft, erfüllt ihren Auftrag, und wenn
der bestimmte Aufgaben beinhaltet, werden sie bearbeitet, bis sie einen neuen
Auftrag erhält.
Muh erinnerten mich an Ameisen, ihr geschorener Kopf verstärkte die Ähnlichkeit, es fehlten
lediglich die Fühler und natürlich die aggressiven Kiefer, denn Muh waren nicht
aggressiv. Bea Muh würde meine Überlegungen hinsichtlich der Arbeit bei „Crea.
Heim und Pflege“ wahrscheinlich nicht nachvollziehen können.
Wieder ertappte ich mich dabei, wie ich über Bea nachdachte, während es anderes zu erledigen
gab. Auf die Dauer ginge das nicht so weiter. Ich musste irgendwie
herausfinden, ob es in Sandkrug Muh gäbe und ob Bea bei ihnen lebte.
*
Andy und Kirsten klingelten gegen halb neun, etwa drei Minuten nachdem ich zu Hause
eingetroffen war. Nach der Arbeit war ich, wie ich ihr beim Eintreten gesagt hatte,
kurz zu Heidi hinaufgegangen, und die hatte die Gelegenheit genutzt, sich zwei
Stunden lang über eine Kollegin auszulassen. Diese Kollegin hatte Heidi
ausgebildet und glaubte nach wie vor, ein gelegentlicher Guss allgemeiner
Kritik wirke motivationssteigernd. Da zudem die Klimaanlage nicht
funktionierte, hatte es eine wahrlich heiße Diskussion gegeben, bis Hasso
dazwischen gegangen war.
Bei Hasso handelte es sich keineswegs um einen Hund, mit dem man in diesem Betrieb
streitende Mitarbeiter trennte. Hasso Vondenlinden war der Inhaber des
Personaldienstleisters, und die Kollegin seine Frau, von der er seit mittlerweile
acht Jahren getrennt lebt, weil ein Zusammenleben aus persönlicher Sicht
unmöglich, eine Scheidung dessen ungeachtet aufgrund finanzieller
Verflechtungen zu vermeiden ist.
Durch Hassos Einmischung war die Aufmerksamkeit seiner Frau auf ihn umgeschwenkt. Nach den
anschließenden dreißig Minuten intimer Vorwürfe waren die Vondenlindens
miteinander Kaffee trinken gegangen. Später hatten sie leicht alkoholisiert bei
Heidi angerufen, um ihr mitzuteilen, keiner der beiden werde an diesem Tag noch
einmal ins Büro zurückkehren.
„Das passiert etwa alle drei Monate“, hatte Heidi mir erklärt und die Augen verdreht.
Über ihre Arbeit sprach sie ansonsten ebenso selten wie über ihr Privatleben. Erstaunt
nahm ich diese Abweichung vom Normalen zur Kenntnis und blieb deshalb erst
einmal bei ihr. Aber vertraute Stimmung kam nicht auf. Ich hatte anfangs mit
dem Gedanken gespielt, ihr von Bea zu erzählen, unterließ es aber bei weiterem
Nachdenken. Heidis Verbindung zu der Familie Muh aus dem Reetdachhaus des alten
Herrn Berger, hatte blutig geendet. Sicher durfte ich sie nicht mit
Spekulationen darüber, ob ich auf dem Sandkruger Parkplatz wirklich Bea Muh
gesehen hatte, belasten.
Dass sie während meines Aufenthalts vier SMS erhielt, die sie ebenso lächelnd wie
kommentarlos zur Kenntnis nahm, entmutigte mich außerdem, das Thema Muh
anzuschneiden. Wenn aber Überlegungen, die mich am meisten beschäftigten, Heidi
nicht mitgeteilt werden durften, konnte ich auch nicht über andere persönliche
Dinge mit ihr reden. So berichtete ich von meiner Arbeit, und als ich endlich
zu Hause war, hatte ich Andys angekündigten Besuch völlig vergessen.
Er hatte seine Frau mitgebracht. Kirsten Vosgerau bekam man selten zu Gesicht. Sie arbeitete
in Oldenburg als Krankenschwester, ansonsten wusste ich nicht viel von ihr. Ich
glaube, ein wenig war sie auf meinen Vater eifersüchtig, weil Andy so viel Zeit
mit ihm verbrachte. Ambivalent war auch ihr Verhältnis zu meiner Mutter, da
Kirsten wie viele Frauen uneingestandene Minderwertigkeitsgefühle gegenüber
einer diplomierten und professionellen Hausfrau plagten. Es fiel mir bei jedem
ihrer seltenen Besuche im stillen Tal auf, wenn sie sich eilig umsah und eine
Liste von perfekt geschnittenen Hecken, üppig blühenden unkrautfreien Beeten,
sauberen Fenstern, staubfreien Zimmerecken und akkurat gerafften Gardinen
erstellte.
Eigene Kinder hatten sie und Andy nicht, und Kirsten hatte immer einen Sicherheitsabstand zu
Heidi und mir gehalten. Aber an diesem Abend schien sie Andy tatsächlich
freiwillig in meine Wohnung zu begleiten. Neugier war wohl das Hauptmotiv. Als
sie mit mir durch die Räume ging, stand ihr die Erleichterung über den
halbabgeräumten Wäscheständer im Wohnzimmer ins Gesicht geschrieben.
Während wir in der Küche Mineralwasser tranken, wanderte Andy noch einmal alleine herum und
inspizierte die Fenstersicherungen.
„Er nimmt das mit den Fenstern sehr ernst. Ist das wirklich seine Idee oder hat Mutti ihn
angespitzt?“ fragte ich Kirsten. Die schüttelte den Kopf.
„Ich weiß, dass Kati deswegen bei uns angerufen hat, Christa. Aber schon, als Andy vom Helfen
beim Einzug zurückkam, hat er davon gesprochen, dass er nach den Fenstern sehen
wollte. Das war das Erste, was er zu mir sagte: Ich muss mir Christas
Fenstersicherungen ansehen.“
Zweifelnd blickte ich über Kirstens Schulter in den Flur, den Andy gerade vom
Schlafzimmer ins Wohnzimmer querte. Dabei kritzelte er eifrig auf seinem
Notizblock.
„Das ist doch übertrieben. Ich wohne nicht in der Bronx sondern in Wardenburg.“
Ursprünglich hatte ich hinzufügen wollen, dass in Wardenburg nichts passierte, dass hier
keine Verbrechen geschähen. Weil ich nur zu gut wusste, was in meinem Heimatort
möglich war, hielt mich zurück, so dass mein letzter Satz unvollständig klang.
„Natürlich“, sagte Kirsten, als wolle sie jedwede Zweifel an grundsätzlicher Sicherheit
zerstreuen.
Da bliebe nur die spezifische Unsicherheit, die auch sie mit den üblichen Worten über die
alleinstehende junge Frau andeutete. Ungeduldig nickte ich.
Andy kam zu uns in die Küche.
„Also“, begann er, „es freut mich zu sehen, dass du hier so gut untergebracht bist. Alle
Sicherungen entsprechen dem neusten Stand. Also solltest du sie auch benutzen.
Für die Balkontür werde ich mich noch einmal bei den Kollegen erkundigen. Das
ist schon wichtig, Christa, mach nicht so ein empörtes Gesicht. Wie es
aussieht, hat sich da schon mal jemand zu schaffen gemacht. Vergeblich zwar,
aber reinkommen soll er ja nun nicht beim nächsten Mal, oder?“
Kirsten und ich starrten ihn an. Ich bezweifelte die Existenz der Einbruchsspuren und
unterstellte ihm wohl gemeinte Übertreibung, bei Kirsten entdeckte ich jedoch
einen Ausdruck, wie ich ihn auch auf dem Gesicht meiner Mutter erwartet hätte.
„Du liebe Güte. Doch nicht kürzlich?“ Andy wiegte den Kopf.
„Das nicht. Aber“, Er setzte sich an den Tisch und sah mich ernst an. „Da sind Spuren von
mehreren Einbruchsversuchen. Mindestens zwei. Sieh es dir selbst an.“
Das tat ich selbstverständlich, überzeugt, es gäbe eine andere Erklärung. Am Holzrahmen
waren jedoch tatsächlich Kerben, wenn auch überlackiert.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich die ganzen Mahnungen nicht ernst genommen, weder seine noch
Sandras oder die meiner Mutter. Jetzt ließ sich nicht mehr leugnen, dass diese
Hausseite, von der Straße abgeschirmt und von den Nachbarhäusern nicht
einzusehen, für Einbrecher verlockend erscheinen musste. Gleich hinter dem
Gartenzaun begann das Feld, in Sichtweite stehende Hecken und Bäume boten
potentiellen Beobachtern Deckung. Ein wenig mulmig wurde mir, aber auch mein
Widerspruchsgeist regte sich.
„Meine Eltern brauchen das nicht zu wissen, Andy.“
Kirsten, die mit uns zur Balkontür gekommen war, schüttelte ungläubig über so viel Sturheit
den Kopf. Andy schwieg einen Moment, ehe er mich ansah.
„Das kannst du nicht von mir verlangen, Christa. Jörn und Kati sind um deine Sicherheit
besorgt. Ich werde sie nicht anlügen.“
Ärgerlich, weil ich elterliche Reglementierungsversuche fürchtete, warf ich die Haare zurück.
Meine Frisur bot sich für solche Gesten nicht an, dazu fehlte es an Länge und
Fülle, aber ich wollte temperamentvoll und durchsetzungsstark wirken.
„Unsicher ist alles. Als Studentin habe ich im fünften Stock gewohnt. Da kann man aus dem
Fenster fallen. Und der Straßenverkehr ist auch gefährlich. Denk nur an die
Oldenburger Straße raus aus Wardenburg und am stillen Tal vorbei. Und im
Anschluss daran die Sager Straße. Da fahren alle Autos schnell. Da passieren
tödliche Unfälle. Aber das Autofahren verbieten Mutti und Vati mir nicht.“
Andy sah Kirsten an. Die versuchte zu beschwichtigen.
„Christa, es geht doch gar nicht um Verbote. Es geht um Problembewusstsein. Du musst einfach
akzeptieren, dass offensichtlich schon versucht wurde, in diese Wohnung
einzubrechen. Aber …“
Ich konnte nicht weiter zuhören. Einfach akzeptieren, Gegebenes hinnehmen, demütig
vielleicht gar, devot, so war die Einstellung der Muh. Schon wieder war ich in
Gedanken bei Bea.
„Hört auf!“ Sie sahen mich an.
„Ich akzeptiere es ja.“ Demütig, hätte Bea hinzugefügt, aber mir lag Demut nicht. „Ich nehme
die Tatsache an und bin dir, Andy, dankbar, dass du dich für mich um Lösungsvorschläge
und Sicherungssysteme kümmerst. Aber ich bin kein kleines Kind mehr.“
Mir schien, in diesem Moment wären wir alle bei dem brennenden Haus der Muh angekommen. Ich
schüttelte das Bild hinter meinen Augen fort. Als ich aufsah, wurde mir jedoch
klar, dass Kirsten und Andy gar nicht an das Bergersche Haus dachten.
„Natürlich nicht. Also, ich erkundige mich, was man noch an dieser Balkontür machen könnte.
Vielleicht solltest du deine Vermieterin auf die Einbruchsversuche ansprechen.“
Ob er mit meinen Eltern reden würde, sagte er nicht. Ich vermied es, ihn an diesen Punkt
zu erinnern. Mit Sandra über die Einbruchspuren zu sprechen, fand ich unnötig,
da sie früher hier oben gewohnt und die Kerben wahrscheinlich selbst übermalt
hatte. Wahrscheinlich lag hier der Grund für ihr Drängen nach geschlossenen
Fenstern. Ich konnte nun sogar nachvollziehen, weshalb sie nicht konkreter
geworden war. Behelligen würde ich sie in dieser Angelegenheit mit Sicherheit
nicht.
6. KAPITEL
Auch eine Straße kann schlafen. Graublau liegt das Asphaltband. Zu beiden Seiten heben
sich Bäume in den verschleierten Himmel. Aus dem Graben steigt Dunst und
wandert über das Graublau, nimmt Bläue, gibt Weiße. Kein Blatt regt sich.
Wenn diese Stille ewig anhalten würde, wenn niemals die aschene Decke dort droben
aufrisse, nie das schamlose Licht den Dunst vertriebe. Dann …wäre alles
anders. Schon bricht die Welt herein. Ein Lastzug bewegt sich von Ahlhorn
kommend nordwärts. Durch die Spalten in den Metallwänden sieht man eng
zusammengepresst die Leiber von Schweinen. Verdrängte Luft schlägt gegen das
Gesicht. Sie trägt den Geruch von Abgasen und Fäkalien. Im nächsten Moment ist
der LKW nur mehr ein dunkelgrauer Punkt auf Graublau zwischen Blau.
Stille kehrt ein mit dem Verklingen des Motorengeheuls.
Und die Wolken reißen auf.
Licht ist rücksichtslos. Es ist schamlos und verrät jeden. Es zerstört den Schutz der
Schatten. Licht ist zu meiden. Licht war immer ein Gegner. Für alle Augen legt
es bloß, was nur den Blicken eines einzigen hätte zustehen sollen. Dabei trügt
es, damals wie heute. Was es nicht zeigen will, versteckt es dreist. Und es
stellt sich triumphierend in den Dienst der Lüge, als sollte keiner anzweifeln,
was offensichtlich ist.
Einsam steht das Haus wie im Halbschlaf, gelb glänzend im Morgenlicht. Das ist nicht die
Helle von Hoffnung. Dunkelheit alleine erlaubt den Kampf gegen den größten
Betrug.
*
Sandra hatte mich abgefangen. Anders konnte ich es nicht nennen. Es war, als hätte sie an
den Fenstern nach meinem Auto Ausschau gehalten, hinter dem Spion der Erdgeschosswohnung
auf mich gelauert und ihre Tür aufgerissen, sobald die Haustür hinter mir
zugefallen war. Erschrocken drehte ich mich um.
„Hallo Christa hast du Lust mit mir zu essen ach bitte.“
Ich konnte das Weiße rund um ihre Iris sehen, als sie diesen Spruch explosionsartig ausstieß.
„Ich bin müde“, teilte ich ihr mit, in der Hoffnung ich müsste nicht explizit ablehnen. Sandra
schnappte nach Luft.
„Dann möchtest du nicht kochen. Das Essen ist fast fertig. Komm doch. Bitte.“
Immerhin machte sie jetzt Pausen zwischen den Wörtern. Aber entgegen ihrer Behauptung, das
Essen sei fast fertig, roch es nicht nach Gekochtem aus ihrer Wohnung. Ich
versuchte es mit einer Wiederholung.
„Danke, aber ich bin müde.“
Nun schien sie die Absage erfasst zu haben. Zu meinem Entsetzen glitzerten Tränen in den
weiten Augen. Prompt meldete sich mein Gewissen mit den Stichworten Gefühllosigkeit
und Egoismus. Ich seufzte.
„Okay, danke, Sandra. Ich esse gerne mit dir.“
Das sei gar nicht gelogen, versicherte mir mein knurrender Magen. Ich versuchte, auch ihn
zu ignorieren. Sandra hantierte in der Küche, derweil sah ich mich in ihrem
Wohnzimmer um. Das Haus hatte anders als die meisten Häuser hier Rollläden an
allen Fenstern, eben das solide Haus eines Bauunternehmers, der sich seinerzeit
an der absoluten Peripherie niedergelassen hatte. Stur, wie ich war, verwendete
ich sie in meiner Wohnung oben nicht, aber in der relativen Kühle des
abgedunkelten Menserhagenschen Wohnzimmers schwante mir, dass sie anscheinend
zur Temperaturregulierung beitrugen.
Durch die kleinen Ritzen im oberen Bereich der Rollläden fielen Lichtbahnen in den Raum.
Der tanzende Staub ließ sie fast solide aussehen. Während Sandra ununterbrochen
zu mir redete, wie sie wohl meinte, denn tatsächlich verstand ich kein Wort,
trat ich an eines der Fenster und lugte durch die Ritzen hinaus. Hinter den
Sträuchern des Vorgartens war der Patenbergsweg zu sehen. Ich blickte direkt
auf mein dort abgestelltes Auto.
Ein wenig bestürzt, eine Bestätigung meines Verdachts gefunden zu haben, ging ich an den
schattigen Wohnzimmermöbeln vorbei zur Terrassentür. Trotz der angenehmen
Temperaturen, die sechsundzwanzig Grad auf dem Messingthermometer an der Wand
empfand ich als kühl, zog ich es vor, an der freien Luft zu sein. Einzelheiten
der Einrichtung waren wegen der herabgelassenen Rollläden nicht zu erkennen,
aber der Raum fühlte sich an, als herrschten dicke Polster, weiche Teppiche und
dunkle Holztöne vor.
So fühlten sich Wohnzimmer der Großelterngeneration an, von denen ich in den paar Wochen meiner
Tätigkeit bei „Crea. Heim und Pflege“ schon einige kennen gelernt hatte. Was
ich ausmachen konnte, war massiv und rustikal, Glas und Messing dominierten bei
den Dekorationen, dazu kam ein süßlicher Geruch, den ich aufgrund der
speziellen Aspekte meines Elternhauses als bienenwachshaltige Möbelpolitur
identifizieren konnte. Sandra lebte mit dem Mobiliar ihrer verstorbenen Eltern
in deren Wohnung. Was aus ihren eigenen Möbeln in der Oberwohnung geworden war,
ließe sich nur vermuten.
Draußen war es nur erträglich, weil inzwischen ein leichter Wind wehte. Er bewegte die Blätter
der Birken und nahm der Welt den Anschein des Stillstands. Auf einem Nachbargrundstück
wurde gegrillt. Kinderstimmen hallten über die Hecke.
Ich ging zurück zur Küchentür. Eben erst hatte Sandra die Nudeln aufgesetzt. Ihr schien nicht
bewusst zu sein, dass ich sie bei einer Lüge ertappt hatte. Nun, da sie mich in
ihrer Wohnung hatte, wirkte sie entspannter.
„Kann ich helfen?“ fragte ich, wie es mir von klein auf eingetrichtert worden war. Sie
schüttelte den Kopf.
„Nein, danke, Christa. Ruh dich aus. Schau, ich habe dir etwas zu trinken hingestellt. Trink,
es ist heiß heute.“ Natürlich war es heiß. Ich war durstig. Trotzdem zögerte
ich in einem Anflug von Misstrauen, lachte mich innerlich aus und trank.
„Kann ich nicht doch irgendetwas tun?“ fragte ich wieder und sah mich um. An der Rückseite der
Garage lag ein Gartenschlauch ordentlich zusammengelegt neben dem
Wasseranschluss.
„Ich könnte den Garten sprengen. Vielleicht kühlt sich die Luft an der Terrasse dann etwas ab.“
„Ja, das könntest du machen“, erwiderte Sandra, als hätte sie keine Ahnung, wovon ich
gerade gesprochen hatte. Aber da sie sich wieder dem Herd zuwandte, nahm ich es
als Einverständniserklärung.
Der Garten der Menserhagens dehnte sich nach hinten aus. Zwar standen auch die benachbarten
Häuser auf großen Grundstücken, es schien jedoch, als hätten Sandras Eltern ein
zusätzliches Stück Land gekauft, denn Bäume und Hecken der Nachbarn endeten gut
zehn Meter vor denen der Menserhagens.
Für die gebrechliche Sandra musste es eine Belastung sein, einen so weitläufigen Garten
in Schuss zu halten. Beete gab es jedoch nur nahe der Terrasse. Ich an Sandras
Stelle hätte diese auch eingesät und auf der Terrasse Kübel bepflanzt. Die
konnte man notfalls auf einem Stuhl sitzend pflegen. Doch Sandra, die nicht nur
im Wohnzimmer sondern auch in der Küche die Einrichtung der Eltern beibehalten
hatte, wäre wohl kaum bereit gewesen anzuerkennen, dass manche Veränderungen zu
ihrem Nutzen wären.
Auch sah es so aus, als schleppte diese zerbrechliche Person die Terrassenmöbel jeden Abend
zurück an ihren Platz in der Garage. Die hatte zum Garten hin eine Art
separaten Abstellraum, wo neben einigen Klappstühlen Gartengeräte sauber
aufgereiht hingen.
Durch eine schwergängige Metalltür kam man in die eigentliche Garage. An deren Seite
befand sich eine weitere Tür, vermutlich zum Haus. Dem Geruch nach zu urteilen,
gab es hier schon länger kein Auto mehr. Wieder ermahnte ich mich, dass dies
Sandras Angelegenheiten seien. Mir stünde die Frage nach dem fehlenden Auto in
dieser gutbürgerlichen Garage nicht zu. Wenn Sandra es für nötig hielte, würde
sie darüber reden, doch nichts verpflichtete sie.
Den Schlauch in der Hand wanderte ich über den Rasen. Ich sah mich ganz bewusst nach
gärtnerischen Eindrücken um, damit meine Gedanken nicht auf Abwege gerieten.
Bisher hatte ich nur vom Balkon aus auf die Anlage gesehen, ein langgezogenes
grünes Rechteck, umrahmt von gezähmtem Strauchwerk.
In der Mitte der Rasenfläche befand sich eine Unregelmäßigkeit. Auf einer runden Fläche von
etwa anderthalb Meter Durchmesser wuchs das Gras dunkler, als habe man vor
einigen Jahren diese Stelle neu eingesät. Vielleicht hatte sich hier einmal ein
Beet befunden. Von der Terrasse und von dem Balkon aus hätte es sicher
attraktiv ausgesehen, aber alle echten Blickfänge waren längst pflegeleichterer
Bepflanzung gewichen.
Trotzdem atmete der Garten Kühle. Die Luft war erfüllt von Wasserstaub und dem fauligen Geruch
des Brunnenwassers. Vor mir im Strahl tanzte ein Regenbogen. Vom Nachbargrundstück
ragte ein Kirschbaum in den Garten, dahinter wuchsen mehrere Kiefern so dicht,
dass ich nicht erkennen konnte, welche bei den Nachbarn standen. Vor ihnen führte
ein Pfad aus einzelnen Waschbetonplatten auf die Grundstücksverlängerung.
Neugierig zog ich den Wasserschlauch auch dorthin.
Die Kiefern begrenzten den Garten der Menserhagens nur optisch. Direkt dahinter stand eine
Kompostkiste, in der zuoberst frisch gemähtes Gras lag. Ich hatte vermutet,
Sandra überließe schwere Arbeiten wie das Mähen einer Gärtnerfirma, aber die
hätte den Rasenschnitt mitgenommen. Es passte zu ihr, dass sie den klobigen
Rasenmäher selbst durch den Garten schob, obwohl es nicht gut für ihren Rücken
war.
Mich ginge auch dies nichts an, nichtsdestoweniger fragte ich mich, ob ich ihr nicht die
Übernahme der Gartenpflege anbieten sollte. Mein eigenes Interesse dafür war
minimal, meine Kenntnisse allenfalls grundlegend. Sicher wäre es besser, dieses
Angebot nicht zu machen. Sie war definitiv verrückt genug, es anzunehmen.
Offensichtlich hatten die Menserhagens das Stück Land nur unter Auflagen an ihren Garten
anschließen dürfen. Gartenpflanzen wuchsen hier nicht, nur Erlen, Weiden und Gras,
welches wachsen, blühen und Samen tragen durfte, wie es wollte. Jetzt stand es
stellenweise hüfthoch. Die Luft brodelte vom Summen und Zirpen zahlreicher
Insekten. Hinter den sachte wogenden Grasähren konnte ich den Zaun an der
endgültigen Grundstücksgrenze gerade noch erkennen. Es erschien mir fraglich,
ob ich hier gießen sollte. Unentschlossen betrachtete ich das Laub einer Erle.
Meiner Ansicht nach hing es kraftlos herunter, vermutlich wäre es angezeigt,
wenigstens den Bäumen Wasser zu geben. Der sandige Boden hielt kaum
Feuchtigkeit zurück, und der letzte Regen war vor zwei Wochen gefallen.
Schaden, so räsonierte ich, könnte es keinesfalls.
Gezielt hielt ich den Wasserstrahl auf den Wurzelbereich der Bäume. Meine Gedanken und Blicke
schweiften ziellos, sie zeichneten entspannt auf, was meine Augen ihnen
anboten. Abwechslungsreich war die Aussicht nicht. Hinter mir standen die
Kiefern dicht und gerade, um mich herum wuchsen kleinere Laubbäume, die sich
selbst hier angesiedelt hatten. Dazwischen wuchs hauptsächlich niedrigeres
Gras, das zu den Kiefern hin dünner wurde. Unter der Kiefernreihe zeichneten
sich Unebenheiten am Boden ab.
Verwundert betrachtete ich die kleinen Hügel, jeder vielleicht fünfzig bis siebzig
Zentimeter lang und zu akkurat ausgerichtet für Ameisennester. Einer war frisch
aufgeworfen, die Erde sandigbraun und locker. Mir fiel ein, dass Sandra vor
einigen Tagen erwähnt hatte, gegen eines ihrer Fenster sei ein Vogel geflogen.
Wahrscheinlich vergrub sie die Opfer solcher Flugunfälle lieber hier hinten als
am Haus. Meine Eltern hatten auch so eine Ecke am Ende ihres Gartens. Von
dieser Erklärung befriedigt nickte ich zu mir selbst und richtete den
Wasserstrahl in eine andere Richtung. Hinter einer hochgeschossenen Birke,
deren weißbespannter Stamm kaum den Durchmesser meines Arms erreicht hatte,
endete das Grundstück in einem einfachen Maschendrahtzaun. Dahinter wuchs
Gerste, in der Ferne von silbrigen Bäumen begrenzt. An einer Stelle war der
Draht niedergedrückt.
Vor wenigen Tagen noch hätte ich mir einen eingedrückten Zaun durch Kinder erklärt, die es
aufregend gefunden hatten, auf ein fremdes Grundstück zu klettern. Nachdem Andy
mir die Spuren vergangener Einbruchsversuche an meiner Balkontür gezeigt hatte,
fand ich den Anblick befremdlich. Unwillkürlich sah ich mich um. Spuren am
Boden waren nicht zu entdecken, nicht nachdem ich einen Schlauch über das Gras
gezogen und die leichte Erde bespritzt hatte. Andererseits sprach auch nichts
dafür, dass jemand vor kurzem über den Zaun gestiegen war. Es hätte Wochen,
Monate, sogar Jahre zurückliegen können, schließlich waren auch die Kerben an
meinem Türrahmen wenigstens einmal überlackiert worden.
Sandra nahm meinen Bericht erstaunlich gelassen entgegen.
„Oh, das waren Kinder“, winkte sie ab und tat mir Soße auf. Ich nickte und vermied sorgfältig
jede Anspielung auf ihre Sorge wegen meiner offenen Fenster.
„Danke für das Gießen“, sagte sie. Es war an mir abzuwinken.
7. KAPITEL
Am nächsten Morgen hatte Harry ein riesiges Pflaster an der Stirn.
„Was hast du denn gemacht?“ entfuhr es mir, als er das Büro betrat. Er stöhnte und bewegte
mit der Hand die kompakte Matte seiner Haare, die über das Pflaster lappte.
„Das glaubst du mir nicht. Ich bin nach dem Gießen auf dem nassen Gras ausgerutscht und gegen
eine Beeteinfassung geknallt. Himmel, hat das gesuppt.“
„Ich glaube dir“, erwiderte ich, weil ich am Vortag in Sandras Garten auch ins Schlittern
geraten war.
Als ich das erklärend hinzusetzte, betrachtete er mich väterlich. Seinem zeitlosen
Erscheinungsbild zum Trotz ging er stramm auf das Alter meiner Eltern zu.
„Wo hast du denn gegossen? Bei Mama und Papa?“
„Nö“, sagte ich etwas pikiert, „bei meiner Vermieterin. Die hatte mich zum Essen eingeladen,
und während sie das Essen fertig gemacht hat, habe ich gegossen. Der Garten ist
groß, und Sandra bewältigt das, glaube ich, nicht so gut.“
„Sandra?“
„Sandra Menserhagen im Patenbergsweg.“
„Die Tochter von dem Bauunternehmer?“ Ich nickte. Er machte ein komisches Gesicht.
„Kennst du sie?“ erkundigte ich mich. Alle Wardenburger kannten sich, ähnlich wie
Oldenburger, nur dass in Oldenburg auch Neuzugezogene nach spätestens drei
Jahren alle anderen Oldenburger kannten. Harry machte ein betont unbeteiligtes
Gesicht.
„Ja. Sicher. Sie war mal meine Freundin. Ehrlich gesagt. Ist lange her. Vor dem Unfall.“
Ich betrachtete ihn skeptisch. Dass auch Leute zwischen vierzig und fünfzig einmal jung gewesen
sein mussten, war nicht von der Hand zu weisen, so unwahrscheinlich es
erschien. Und alte Wardenburger kannten sich, wie gesagt. Zahlreiche
Schülergenerationen waren durch das Schulzentrum am Everkamp gegangen, allein
die gemeinsame Schulzeit verband Tausende. Aber dass Sandra Menserhagen mit
ihrem altjüngferlichen Gehabe und dem irren Blick die Freundin von Harry
Meinert, dem ExFaustballstar, gewesen sein sollte, hatte etwas Unglaubhaftes.
„Wie geht’s ihr denn so?“ fragte Harry nun beinahe dienstlich, fast so als bespräche er mit
einer Tochter die Gebrechen der alternden Mutter, damit eine passende Wohnung
gefunden werden konnte. Ich fühlte mich außerstande zuzugeben, dass ich Sandra
für halb verrückt hielt.
„Gut.“
„Ah. Schön.“ Er sah seine EMails durch.
„Weißt du, Christa, ich hätte Sandra fast mal geheiratet.“
Höflich betrachtete ich ihn. Seine Frau hatte ich schon kennen gelernt, eine
Sozialpädagogin aus Oldenburg mit im Gegensatz zu ihm superkurzen seidigen
Haaren, schmalen Schultern und breiten Hüften. Sie hatten zwei erwachsene
Kinder, wie die Eltern anscheinend engagierte und aktive Leute. Sandra
Menserhagen passte nicht ins Bild.
Harry blickte auf und lachte.
„Was guckst du so? Kannst dir wohl nicht vorstellen, dass ich alter Knabe mal mit deiner
Vermieterin verlobt war? Doch, doch, das stimmt, auch wenn es weit über zwanzig
Jahre her ist.“
„Sandra ist so völlig anders als du“, erläuterte ich den Zweifel in meinen Augen. Wieder
lachte Harry.
„Klar. Und Maxi ist auch anders als ich.“ Maxi war seine Frau.
Er wurde ernst. Mit einem Mal war jede Heiterkeit aus seinem Gesicht verschwunden.
„Sandra war ein liebes Ding. Bis zu dem Unfall. Schreckliche Sache. Sie sagte, sie könnte es
nicht verantworten, wenn ich unter den Umständen bei ihr bliebe. So schassen sonst
Männer ihre Freundinnen. Das hat mir zu denken gegeben. Na, sie kam nicht damit
klar, dass Leute umgekommen sind. Heute sehe ich das. Damals nicht. In deinem
Alter versteht man das nicht, Christa.“ Er zuckte mit den Schultern.
Ich konnte es verstehen, aber das brauchte ich vor Harry Meinert nicht auszuführen. Ich
wusste, wie es sich anfühlte, wenn man sich Tag für Tag, Augenblick für
Augenblick einredete, ein früherer Blick aus dem Fenster, aufmerksameres
Lauschen, schnelleres Laufen zum Telefon oder ähnliche Kleinigkeiten hätten
sechs Menschen retten können. Seit Jahren suchte ich einen Ort, an dem ich
meine Verantwortung offiziell übernehmen könnte, denn gegen mein besseres
Wissen versicherten mir alle, ich trüge gar keine Verantwortung. Die anderen
Leute im stillen Tal, meine Eltern, die Polizei, sie alle sagten, ich hätte
nichts anders machen können.
Und doch wäre es mir leicht gefallen, nicht zu handeln oder zu reden, wie ich gehandelt und
wie ich geredet hatte. Noch am Nachmittag vor dem Brandanschlag hatte ich zu
Frerk Deepken gesagt, er solle nachdenken. Gemeint war, er solle einsehen, dass
Leute, die in der Nachbarschaft wohnten, dort ganz einfach wohnten und nicht
verschwanden, nur weil er sie nicht mochte. Frerk hatte daraufhin nachgedacht
und anschließend, unterstützt von dem Sohn seines Nachbarn, Rasenmäherbenzin in
leere Bierflaschen gefüllt, Putzlumpen hineingesteckt und angezündet. Diese
selbst gebastelten Molotowcocktails hatten die beiden durch die Fenster des
Reetdachhauses geworfen. Frerk hatte nur getan, was ich ihm aufgetragen hatte:
nachdenken. Niemand würde mich je überzeugen können, dass ich ihn nicht
praktisch angestiftet hatte.
Meinetwegen hatte Bea Mutter und Geschwister verloren, und auch den Mann, der ihrer Mutter
von der Gemeinschaft Muh als neuer Ehemann zugeteilt worden war. Davon
berichtete ich Harry nichts. Er würde genau wie meine Eltern, wie Andy Vosgerau
und die anderen Polizisten behaupten, ich trüge keine Verantwortung. Doch ich
tat es und ich konnte nachvollziehen, wieso Sandra Menserhagen wie nicht von
dieser Welt durch den Tag irrte. Ich konnte mir sogar vorstellen, eines Tages
so zu enden wie sie. Reden wollte ich nicht darüber.
Auch hatte ich plötzlich das Bedürfnis, nicht länger mit Harry im Büro zu sitzen. Eilig schob
ich ein paar Akten zusammen und sprang ins Auto, ein paar Wohnungen einen
Überraschungsbesuch abzustatten. Hinüber nach Achternmeer fuhr ich und nach
Hundsmühlen, nach Tungeln und Sandkrug. Den Ort hatte ich mir bis zuletzt
aufgespart, warum, war naheliegend und durfte doch nicht ausgesprochen werden.
In Sandkrug hatte ich eine Muh gesehen.
*
Wenn immer alles so leicht ginge. Wenn immer der Mond den Anstand besäße, das bleiche
Gesicht zu verbergen, wenn der Bauer das Feld immer abernten würde, wenn …
Unter Schritten beschlagener Schuhe knicken Getreidestoppeln. Das Haus, die Nachbarhäuser,
sämtliche Gärten liegen im Dunkeln. Über das Feld jedoch nähert sich ein
Schatten, wittert, erschrickt vom Brechen der trockenen Stoppeln, setzt davon.
Vorsichtig überwindet man über den Zaun. Bäume und Erde duften aromatisch. Ohne die
Bakterien gäbe es den Geruch nicht. Es ist ein Wohlgeruch des Vergehens. Das
Gras indessen schluckt jeden Tritt. In der Tasche zappelt etwas. Eine schwarz
behandschuhte Hand greift hinein, zieht das zappelnde Etwas heraus. Die
Messerklinge ist nicht geschwärzt, auch ohne Mondlicht blitzt Metall und fährt
nieder in den weichen Leib.
Ein langgezogener Schrei folgt, tierisch, unbedeutend, unbeobachtet. Trotzdem
durchdringt er Mark und Bein. Die Hand hält inne. Schreie wie dieser verklingen
nie. Die Ohren halten sie fest und spielen sie wieder und wieder ab, bei Tag
wie bei Nacht. Nie hat man Ruhe vor ihnen.
Im zweifelhaften Licht sind dunkle Flecken auf den Steinen zu sehen. Das
verendende Tier windet sich, klagt, schreit. Oben geht hinter den geschlossenen
Rollläden Licht an. Der kleine Körper fällt aus der Hand. Ein Blatt segelt
hinterher auf die Flecken. Jemand zieht den Rollladen auf. Ein Rückzug in Eile
war nicht geplant, doch das Gelände ist dafür wie geschaffen. Als volles Licht
aus dem geöffneten Fenster fällt, sind alle Schatten nur Schatten des Gartens.
8. KAPITEL
Manches bildet man sich ein, weil man es so sehr erwartet hat. Ich hätte schwören können,
jemand wäre durch den Garten gelaufen. Außerdem glaubte ich, in dem Moment, als
der Rollladen gerade über Augenhöhe hing, eine Bewegung wahrgenommen zu haben.
Spontan öffnete ich die Balkontür.
Draußen war absolut nichts Ungewöhnliches und schon gar nichts Bewegtes zu entdecken. Vor
mir lag der Garten, zu beiden Seiten waren ebenfalls Gärten, dahinter das abgeerntete
Gerstenfeld, und über all dem glitzerten die abertausend Sterne einer
sommerlichen Neumondnacht. Kein Wind wehte, kein Geräusch war zu hören. Ich
trat vor zum Metallgeländer.
Unter mir ertönte ein halb erstickter Laut. An jedem anderen Abend hätte ich ihn einem
Igel zugeschrieben, aber an diesem erinnerte ich mich daran, dass Igel
kontinuierlich schnauften, nicht nur einmal, und dass ich vorher von einem
ähnlichen Laut aufgewacht war. Erkennen konnte ich weiterhin nichts, aber auf
unerklärliche Weise fühlte ich, dass auf der Terrasse etwas lag, sich etwas regte
und nun wieder ein schwaches Geräusch verursachte.
Im Zweifel, wie ich mich verhalten sollte, starrte ich in das Dunkel, wo die Terrassenfliesen
an den Rasen stießen. In meinem Auto lag die Taschenlampe, die mein Vater mir
für Notfälle geschenkt hatte. Nicht, dass mir bei einer nächtlichen Panne Licht
weitergeholfen hätte, denn ich besaß nur die vageste Vorstellung, wie ich
beispielsweise einen Reifen hätte wechseln können, aber man konnte damit auch
Hausnummern anleuchten, was bei uns auf dem Land, wo nicht wenige Häuser fernab
der nächsten Laterne stehen, nützlich sein kann. Mit dieser Lampe hätte ich vom
Balkon aus kontrollieren können, was dort unten los war.
Kurzentschlossen schlich ich im Nachthemd hinunter zu meinem Auto. Mit der eingeschalteten
Taschenlampe tapste ich nicht etwa wieder hinauf in meine Wohnung sondern um
das Haus herum. An der Giebelseite sprangen sofort Bewegungsmelder an.
Geblendet von deren Licht lief ich weiter, bis ich auf der Rückseite des Hauses
abrupt stehen blieb.
Hier war alles finster. Ich leuchtete die Terrasse ab. Dort schien tatsächlich etwas zu
liegen. Vorsichtig trat ich näher, wich aber mit einem Japsen zurück. Ein
kleines Tier, ein Hundewelpe, wie mir schien, wand sich hilflos. Aus der
offenen Bauchdecke quollen Blut und eine glänzende dunkle Masse, die nur Därme
sein konnten.
Gegen die aufsteigende Übelkeit anschluckend sah ich mich um. Das Licht der
Bewegungsmelder am Giebel hatte sich wieder ausgeschaltet. Ich stand allein mit
meiner Taschenlampe bei dem verwundeten Tier, das sich kaum an diesen Ort
geschleppt haben konnte ohne auf Gras und Steinen eine Blutspur zu
hinterlassen. Wer immer für diese Verletzungen verantwortlich war, hatte das
arme Ding auf die Terrasse gelegt.
Eben wollte ich mich zum Garten drehen, falls sich dort Hinweise finden ließen, als etwas
Weißes unterhalb des sich windenden Körpers meine Aufmerksamkeit weckte.
Vorsichtig, wegen der Übelkeit immer noch eine Hand vor den Mund gelegt, trat
ich näher. Es war ein Blatt Papier. „Ich krieg dich noch“ las ich unter den
Blutflecken.
Hinter mir an Sandras Terrassentür rasselte der Rollladen nach oben. Im nächsten Moment sah
ich sie hinter der Glastür, wie ich im Nachthemd und mit wirren Haaren, die
Augen, wie bei mir hoffentlich nicht, weit aufgerissen.
„Sandra!“ brachte ich heraus. Trotz offensichtlicher Panik kam ein Anflug von
Überraschung auf ihr Gesicht. Was immer sie vorzufinden geglaubt hatte, ich war
es nicht gewesen. Nun öffnete sie die Tür. Ich lief zu ihr hinein und schloss
die Tür wieder.
„Jemand war im Garten. Jemand hat ein Tier verletzt und auf die Terrasse gelegt. Sieh nicht
hin. Es ist grässlich. Er könnte noch in der Nähe sein“, plapperte ich heraus.
Sandra starrte immer noch, die Überraschung auf ihrem Gesicht rang mit anderen Empfindungen
und trug einen kleinen Sieg davon.
„Was machst du denn hier unten, Christa?“ fragte sie.
Beinahe klang sie neugierig. Ich berichtete ihr von dem seltsamen Geräusch, das mich, wie ich
jetzt fest glaubte, geweckt hatte, von meinem Gefühl, ich müsste nachsehen, was
im Garten vor sich ginge, und meiner Entdeckung.
Seltsamerweise schien das blutige Bündel jenseits der Glastür Sandra weniger zu beeindrucken
als meine Entscheidung, alleine in den Garten zu gehen.
„Was du alles wagst“, stieß sie atemlos hervor. Ihr Gesicht war so bleich, dass ich
fürchtete, sie würde ohnmächtig werden. Fürsorglich führte ich sie zu einem
Sessel, in den sie sich fallen ließ, als habe sie jede Kontrolle über ihre
Gliedmaßen verloren.
„Was du alles wagst“, wiederholte sie, jedenfalls nahm ich an, sie habe das gesagt, denn sie
hatte kaum mehr Atem.
„Du brauchst einen Arzt“, stellte ich fest. Sandra schüttelte den Kopf.
„Tabletten. In der Küche. Über dem Spülbecken. Zwei Stück.“
Ich nickte und lief in die Küche. Im Schrankfach über der Spüle fand ich einen angebrochenen
Folienstreifen mit Tabletten, daneben eine ganz neue Packung. Eilig drückte ich
zwei Tabletten aus dem Streifen, suchte nach Gläsern und füllte eines mit
Wasser. Der Anblick ihrer Tabletten belebte Sandra soweit, dass sie den Kopf
anhob und die Hand nach dem Glas ausstreckte. Sobald sie die Tabletten
geschluckt hatte, wirkte sie ruhiger, als habe sie die Verantwortung für ihr
Befinden dankbar an die Tabletten abgegeben.
Während ich neben ihrem Sessel stand und besorgt wartete, ob es ihr besser ginge, sah ich
mich im Wohnzimmer um. Bei Licht bestätigte sich mein Eindruck von gut
gepolsterter Bürgerlichkeit. Mein Blick streifte über Möbel, Gemälde, Fotos,
Teppiche, und kehrte zurück zu der zitternden Frau im Sessel.
„Da liegt ein Zettel neben dem Tier. Ich kriege dich, oder so ähnlich, steht darauf“,
informierte ich sie. Sandra winkte matt ab.
„Ein schlechter Scherz“, flüsterte sie. Ich schnaubte.
„Ein reichlich makaberer Scherz. Und grausam. Wer macht denn so was?“ Es war eine rhetorische
Frage gewesen, die Sandra sich auch nicht bemühte zu beantworten. Mir war klar,
dass ich es dabei belassen müsste.
Ein anderer Gedanke kam und verstörte mich erneut.
„Was machen wir mit dem armen Tier? Es quält sich so …“
Sandra hob den Blick zu mir. Ich schluckte und ging auf die Terrasse. Dass man die arme
Kreatur von ihren Qualen befreien müsste, hielt ich zwar für richtig, ich
fragte mich jedoch, ob ich dazu in der Lage wäre. Aber meine Sorgen waren
unnötig gewesen. Als ich die Taschenlampe auf den kleinen Körper richtete,
bewegte der sich nicht mehr. Auch wirkte er kleiner als zuvor, als habe etwas
das haarige Bündel verlassen. Der Welpe war tot.
Ich sah mich um, wie der Leichnam, Kadaver klang pietätslos, abzudecken wäre. Neben der
Garagentür lag ein halbleerer Sack Erde. Den schleppte ich herbei und legte ihn
über das Tier und den Zettel, der mittlerweile mit Blut vollgesogen war. In
Sandras Küche wusch ich mir die Hände, dann lief ich zurück in meine Wohnung,
warf das mit Erde verdreckte Nachthemd in den Wäschekorb und fiel nackt ins
Bett. Es mag gefühllos klingen, aber ich schlief sofort ein.
*
Es war nun an Harry zu fragen, was ich getrieben hätte, als ich am Morgen ins Büro kam.
„Party nebenan. Jemand wurde achtzehn“, improvisierte ich und musste mir anhören, dass jemandem
in meinem Alter so etwas nichts ausmachen sollte. Dazu nickte ich und holte mir
Kaffee. Vielleicht hätte ich ihm sagen sollen, was in der Nacht auf dem
Grundstück der Frau, die er einmal hatte heiraten wollen, geschehen war. Aber
Harry hatte Sandra nicht geheiratet, er stand in keinerlei Verhältnis zu ihr.
Vermutlich wäre es ihm gleichgültig, was mit ihr geschähe.
Also ließ ich ihn in dem Glauben, Nachbarn hätten die halbe Nacht lang gefeiert und mich mit
ihrer Musik wachgehalten. Zwar hatte ich wenig geschlafen, war aber, wie Harry
gesagt hatte, jung genug, das weckzustecken. Vergessen konnte ich den
Zwischenfall jedoch nicht, und ich hoffte sehr, es gäbe keine Wiederholung.
Dass ich nach der Arbeit ins stille Tal zu meinen Eltern fuhr, war reiner Zufall und hatte
nichts mit den Ereignissen in Sandras Garten zu tun. Mir war eingefallen, dass
noch einige Kartons in meinem alten Zimmer lagerten, und ich glaubte, mit dem
Einräumen so weit vorangekommen zu sein, dass ich diese Kartons jetzt abholen
könnte. Wenn ein Abendessen für mich abfiele, wäre das ein weiterer Bonus.
Als einige Jahre nach dem Brand im Bergerschen Haus die neuen Einfamilienhäuser
hochgezogen wurden, hatten sich meine Eltern entschlossen, ihre Garage zu
erweitern. Bis zum Tod des alten Herrn Berger, ehe die Familie Muh das Haus
gekauft hatte, war meine Mutter zehn Jahre lang seine Haushälterin gewesen.
Während dieser Zeit hatten meine Eltern nur ein Auto gehalten, welches
hauptsächlich von meinem Vater genutzt und in der alten Garage geparkt wurde.
Nachdem meine Mutter Arbeit in einem Mädchenwohnheim irgendwo hinter Harbern II
gefunden hatte, benötigte auch sie ein Auto.
Anfangs hatte der zweite Wagen an der Straße gestanden, mit Beginn der Bauarbeiten und dem
Verkehr schwerer Arbeitsfahrzeuge war dies unmöglich geworden. Nun zierte das
Grundstück eine Doppelgarage mit angrenzendem Schuppen, und meine Eltern stellten
beide Autos darin ab. Davor parkten Heidi und ich bei unseren pflichtschuldigen
Besuchen, und jetzt stand dort ein dunkelblaues Fahrzeug, das bei flüchtiger
Betrachtung als Geländewagen hätte durchgehen können. Beim Anblick dieses Autos
entfuhr mir ein Stöhnen. In der Küche saß wie erwartet Momo mit einem Becher
Tee, während mein Vater das Abendessen richtete.
„Hallo, Vati. Hi, Momo“, begrüßte ich die beiden. Mein Vater drehte sich offenbar erleichtert
zu mir um.
„Christa. Wolltest du heute kommen?“
„Brauche ich jetzt schon einen Termin?“ erkundigte ich mich und setzte mich zu Momo, der mir
auf der Küchenbank bereitwillig Platz machte. Mein Eintreffen war für ihn
offenkundig kein Anlass zum Aufbruch.
„Gefällt es dir hier in Wardenburg nach deinem Abstecher in den sonnigen Süden?“ wollte er von
mir wissen. „Da, wo ich war, war es gar nicht so sonnig. Aber hier ist es okay.
Sonne haben wir genug“, bemerkte ich und wies mit der Hand auf das Fenster,
durch das man Ausblick auf einen Teil unseres Gartens und die ordentlichen
Beete der neuen Einfamilienhäuser hatte. Die Nachmittagssonne tauchte alles in
goldenes Licht und ließ Geranien, Petunien, Hortensien, und Rosen leuchten.
Momo warf einen traurigen Blick auf diese Farbenpracht.
„Ja. Ja, du hast Recht.“ Vor dem Schneidebrett verdrehte mein Vater die Augen.
Momo war der erste und einzige männliche Bekannte seiner Töchter, dem er ein Existenzrecht
zugesprochen hatte. Dass Momo, bürgerlich Mathias Diez aus Achternmeer, auch
sechs Monate nach dem Ende seiner Beziehung zu Heidi immer noch im stillen Tal
vorbeikam, empfand er unterdes als unangemessen.
„Er leidet eben“, pflegte meine Mutter zu sagen.
Ihr klagte Momo seit dem siebenundzwanzigsten Dezember des Vorjahres sein Leid und würde es
nach derzeitigem Stand der Dinge wohl über den siebenundzwanzigsten Dezember
dieses Jahres hinaus tun, wenn sich nichts Gravierendes änderte. Mein Vater
wurde nicht müde zu erklären, er habe nichts gegen Mathias, den Namen Momo mied
er als einziger der Familie, er sehe nur nicht ein, weshalb der ausgerechnet
Heidis Eltern adoptieren wolle.
„Adoptieren will er uns nicht. Jedenfalls hoffe ich das“, fügte meine Mutter besorgt hinzu.
„Aber er hat doch sonst niemanden zum Reden.“
Das traf insofern zu, als dass Momos eigene Eltern längst verstorben waren. Im stillen
Tal wurde Momo niemals abgewiesen. Dort klingelte er wenigstens einmal pro
Woche und zeigte sich damit öfter und regelmäßiger als Heidi es je getan hatte.
Obgleich sie fast drei Jahre mit ihm zusammen gewesen war, hatte ich Momo erst nach meiner
Rückkehr im Mai näher kennen gelernt. Unsere Bekanntschaft gestaltete sich unproblematisch,
zumal Momo mich zwangsläufig als die unbedeutendere Hemmentochter wahrnahm.
Sein mangelndes Interesse an meiner Person äußerte sich exemplarisch in der Standardfrage, ob
ich mich in Wardenburg eingelebt habe. Die musste ich bei jedem Zusammentreffen
beantworten, und ich hatte Heidi schon meine Überzeugung mitgeteilt, sein
Verstand habe unter der Trennung gelitten.
Heidi zeigte sich ungerührt. Sie hielt Momos Besuche im stillen Tal für
Manipulationsversuche, was ich bezweifelte. Momo wusste schließlich, dass Heidi
die Nähe ihres Elternhauses als Begründung für seltene Besuche dort nutzte. Er
gehörte meiner Ansicht nach einfach zu den Leuten, für die Leiden ein nicht
unbedeutendes Lebensziel ist. Zwar fallen nur relativ wenige Männer in diese
Kategorie, diejenigen, die so eingeordnet werden können, leiden dafür mit
besonderem Gusto.
„Hast du denn jetzt eine eigene Wohnung?“ erkundigte Momo sich, obwohl er mir beim Schleppen
von Kartons behilflich gewesen war.
Aus Rücksicht auf Heidi war er nicht als regulärer Umzugshelfer angeheuert worden,
nichtsdestotrotz hatte er bereitwillig mein Auto und die Autos meiner Eltern
mit Habseligkeiten beladen. Mich tröstete, dass ein so starker Kerl das
Schleppen von Bücherkisten verkraften konnte.
„Habe ich, Momo.“ „Wo denn?“ „Im Patenbergsweg.“
Mein Vater stellte zwei Teller auf den Tisch. Es war ein Signal an Momo.
„Bei Sandra Menserhagen“, ergänzte er meine Antwort. Ich runzelte deswegen erstaunt die
Stirn, hielt doch mein Vater Momo gegenüber meist mit Informationen hinterm
Berg. Momo indessen betrachtete mich mit neuem Interesse.
„Ah. Bei der Tochter vom alten Chef“, sagte er zu meiner Verblüffung.
„Wieso alter Chef?“ fragte ich etwas aggressiv, weil ich immer angenommen hatte, Momo sei Elektriker, was er, wie er mir nun versicherte, auch war. Bei Menserhagen Bau arbeitete er als
Bauelektriker.
„Kennst du Sandra denn?“ wollte ich von ihm wissen. Momo hob die riesigen Hände.
„Vom Sehen. Sie macht die Buchhaltung. Walter Priem ist scharf auf sie, das weiß ich.“
„Der neue Chef?“ wandte mein Vater sein neues Wissen an. Momo nickte grinsend.
„Ja. Die Sandra hat alles geerbt. Nur in der Firma war Walter vorher schon gleichberechtigter
Partner. Sie wollte ja das Geschäft nicht, und andere Erben gab’s nicht. Da hat
Walter zugegriffen, als der alte Chef ihn gefragt hat, ob er sein Nachfolger
werden will. Aber das Geld möchte er natürlich auch haben.“ Ich dachte an die
Fotos, die ich letzte Nacht in Sandras Wohnzimmer gesehen hatte.
„Wieso gab es keine anderen Erben? Hat Sandra nicht einen Bruder?“
Von einem Bruder wusste Momo nichts. Vielleicht empfand er dies als Niederlage, denn mit
dem Hinweis auf eine Verabredung verließ er uns bald darauf.
„Gibt es denn in Wardenburg kein Mädchen, das so einen Kerl nehmen will?“ fragte mein Vater
allgemein.
Ich zuckte mit den Schultern. Über den Geschmack der Mädchen in Wardenburg war ich nicht
informiert. Wir begannen mit der Mahlzeit.
„Wann kommt Mutti?“ fragte ich. Mein Vater blickte zur Uhr.
„Oh, das kann noch dauern. Sie bleibt heute wegen einer Geburtstagsfeier länger. Eins von den
Mädels wird dreizehn.“
Als Mädels wurden von meiner Mutter die jugendlichen Bewohnerinnen des Wohnheims
bezeichnet. Deren Betreuung gehörte nicht zu ihren Aufgaben, als Leiterin der
Hauswirtschaft legte sie aber Wert darauf, die Ereignisse und Feste, bei denen
sich eine Trennung von der Familie besonders schmerzhaft fühlbar machte, so
angenehm wie möglich zu gestalten. Zu Geburtstagsfeiern blieb sie meistens
länger, das wusste ich.
Während des Essens erzählte ich meinem Vater, dass ich meine letzten Kartons abholen
wollte.
„Wie gefällt es dir denn im Patenbergsweg?“ fragte er.
„Gut. Nur die Wohnung ist jetzt heiß“, antwortete ich mit vollem Mund. Mein Vater nickte mit
der Weisheit von fünfzig Lebensjahren
„Das ist nun einmal so im Sommer. Mach tagsüber die Rollläden herunter. Die halten Sonnenlicht
ab und unerwünschte Besucher auch.“
Mit einem Mal war ich misstrauisch. Zu viele Leute rieten mir, die Rollläden
herunterzulassen, die Fenster zu schließen und die Sicherungen am Rahmen zu
verwenden.
„Sag mal“, begann ich, brach aber ab, weil mir die Frage peinlich war. Aber ich fühlte
mich bevormundet und wollte diesen Punkt geklärt wissen. „Ist Andy eigentlich
von selbst auf die Idee gekommen, die Sicherungen an den Fenstern zu
kontrollieren oder hat Mutti ihn angespitzt?“
Das betretene Gesicht meines Vaters sprach Bände. Noch ehe er den Mund öffnete, glaubte ich,
seine Antwort zu kennen. Doch das war ein Irrtum.
„Oh, das war von Anfang an Andys Idee, Christa. Nicht, dass wir etwas dagegen einzuwenden
gehabt hätten. Als Polizist kennt er sich aus.“ Nicht ganz glücklich mit der
Antwort saß ich vor meinem Risotto.
„Und wie kam er auf seine Idee? Wegen der Felder hinter dem Haus und dem nicht einsehbaren
Garten?“ hakte ich nach. Mein Vater schüttelte langsam den Kopf.
„Nein, Christa. Das heißt, deswegen auch. Andy hätte so oder so nach deinen Fenstern gesehen.
Das hat er auch bei Heidis Wohnung gemacht und das macht er bei uns auch,
regelmäßig. Also reg dich nicht auf. Aber …“ Mein Vater musterte mich
prüfend. „Weißt du, Andy kennt das Haus dieser Frau Menserhagen. Dienstlich. Er
sagte, allein in diesem Jahr wäre er schon zweimal nachts dorthin gerufen
worden.“
Ich starrte ihn an, sah aber zwischen seinen Augen den verendenden Welpen auf den
Terrassenfliesen.
„Wieso hat er mir das denn nicht gesagt?“ wollte ich wissen.
Meine Stimme klang in meinen Ohren viel zu schrill, als drohte Hysterie. Eilig trank ich
etwas Wasser. Meinem Vater war der Tonfall nicht aufgefallen.
„Weißt du, anfangs kannte Andy deine neue Adresse nicht genau. Wir hatten ihm gesagt, du
wolltest in den Patenbergsweg ziehen. Der ist bekanntlich lang. Aber als wir
dann mit den Möbeln von Oldenburg zur Wohnung kamen, hat er das Haus erkannt.
Erst drei Wochen vorher war er da gewesen, weil deine Vermieterin nachts die
Polizei verständigt hatte. Angeblich war jemand im Garten.“ Mir wurde kalt.
„Und?“ stieß ich hervor. Immer noch schien mein Vater mein Verhalten normal zu finden.
„Wir haben überlegt, ob wir dir das sagen sollten, Christa. Aber Andy meinte, es gäbe so
viele Leute, die ständig die Polizei rufen, ohne echten Grund, einfach aus
Panik oder weil sie alleine sind. Er wollte dir die Wohnung nicht madig machen.
Deshalb hat er dir nichts gesagt.“
„Aber Mutti“, ergänzte ich seinen Satz. Mein Vater nickte.
Seiner Frau Kirsten hatte Andy natürlich ebenfalls gesagt, meine neue Wohnung befinde sich
im Haus einer Verrückten, die sich von Unbekannten verfolgt fühlte und deshalb
ständig die Polizei alarmierte. Wahrscheinlich hatte Kirsten ihn begleitet, um
einen Blick auf diese Frau zu erhaschen.
Aber Andy hatte tatsächlich Einbruchspuren an meiner Balkontür gefunden. Ich selbst deutete die
Kerben am Holzrahmen so. Und letzte Nacht war jemand auf dem Grundstück
gewesen. Dieser jemand hatte ein unschuldiges Tier brutal verletzt, auf Sandras
Grundstück, und dieser jemand hatte zudem eine schriftliche Drohung
hinterlassen. Der Zaun im naturbelassenen Teil des Gartens war niedergedrückt.
Dort hinter der Kiefernhecke waren kleine Gräber. Letzte Woche war ein Vogel
gegen Sandras Fenster geflogen und verendet, falls er wirklich gegen die
Scheibe geflogen und nicht auf andere Weise ums Leben gekommen war.
„Hat Andy euch denn auch gesagt, dass er Einbruchspuren an meiner Balkontür gefunden hat?“
erkundigte ich mich sachlich.
„Ja“, gab mein Vater zu. „Aber er sagte auch, die seien älter.“ Dazu nickte ich.
„Sagt er sonst noch irgendetwas, was vielleicht auch ich wissen sollte?“
„Nein. Wirklich, Christa. Es sieht doch alles nach Zufall aus.“
Ein Welpe mit aufgeschlitzter Bauchdecke neben einem Drohbrief sah für mich nicht nach Zufall
aus. Ich wägte ab und entschied, meinem Vater nichts von letzter Nacht zu
erzählen. Er würde sich Sorgen machen und Andy alarmieren, der sich ebenfalls
Sorgen machen würde und wieder einmal in Gewissenskonflikt zwischen seinen
Pflichten als Pate und denen als Polizist geriete. Aber mit Sandra wollte ich
noch einmal reden. Wir hätten noch in der Nacht die Polizei verständigen
sollen. Das könnten wir zumindest nachholen.
Sandra ging es an diesem Abend gut. Sie hatte den Welpen begraben, den blutverschmierten
Plastiksack mit dem Schlauch abgespritzt und entsorgt, die Terrassenfliesen mit
dem Hochdruckreiniger bearbeitet, noch einmal Fenster und Rollläden gereinigt.
Wie ich feststellen musste, hatte sie sich auch an dem niedergedrückten
Maschendrahtzaun zu schaffen gemacht. Der war aufgerichtet, die Maschenrauten
auseinandergezogen, und sah, wenn auch nicht wie neu, so doch unauffällig aus.
„Alles ein schlechter Scherz“, versicherte sie mir mit einem gekünstelten Lachen. „Glaub
mir, Christa.“
Ende der Leseprobe
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