Wieken-Verlag Autorenservice Die Legendenweberin. Ein Weben aus Liebe und Lüge – Roman von Martina Sevecke-Pohlen

Die Legendenweberin. Ein Weben aus Liebe und Lüge – Roman von Martina Sevecke-Pohlen

Titel: Die Legendenweberin
Verlag: Wieken-Verlag
erschienen: 2015
Autor: Martina Sevecke-Pohlen
Genre:
ISBN13: 978-3-943621-11-2 (E-Book EPUB), 978-3-943621-20-4 (E-Book Kindle), 978-3-943621-13-6 (Taschenbuch Buchhandel), 978-3-943621-17-4 Taschenbuch Amazon)

Der Rentner Rüdiger Hinrichs lebt zurückgezogen in Wardenburg. Er meidet  seine Mitmenschen, um das dunkle Geheimnis zu verbergen, das er seit Jahren mit sich trägt. Als er jedoch auf die lebenslustige und patente siebzigjährige Klara Prüm trifft, fühlt er sich unerwartet zu ihr hingezogen und beginnt, wieder am Leben teilzunehmen. Doch auch Klara Prüm hütet ein Geheimnis. Je mehr Rüdiger darüber erfährt, desto mehr begreift er, dass sowohl Klaras Leben als auch seines auf einer Lüge basiert. Er muss sich mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen, die mit der Gegenwart zu verschmelzen beginnt.

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Kapitel 1

Am Freitagnachmittag wurde die Idylle der Marktszene vor dem Glockenturm von einem Dröhnen gestört. Entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung bog ein Motorrad in den Wochenmarktbereich des Patenbergswegs ein, wo Rüdiger Hinrichs gerade Kleingeld in die ausgestreckte Hand einer Marktfrau zählte. Erschrocken blickten beide dem Motorrad nach. Dem Marktstand schräg gegenüber hatte das Motorrad eine ältere Dame aufgeschreckt. Sie war mit ihrer Begleiterin aus dem Café getreten und hatte die Straße überqueren wollen, jedoch ohne sich zuvor zu vergewissern, ob keine Fahrzeuge kämen. Ihre umsichtigere Begleiterin hatte sie zurückreißen müssen.

Für Rüdiger Hinrichs war augenblicklich klar, dass es sich bei jener älteren Frau um eine Dame handelte. So hatte man Frauen wie sie in seiner Jugend genannt, und er fand, der Ausdruck passe nach wie vor auf ein bestimmtes Segment der weiblichen Bevölkerung. Dennoch riss er den Blick von ihr los und suchte eilig nach den benötigten Münzen. Hinter ihm schimpfte eine andere Kundin immer noch über den Motorradfahrer.

„Vielleicht war er ortsfremd“, gab er zu bedenken, wohlwissend, dass dies keinen Grund darstellte, eine deutlich sichtbare Beschilderung zu ignorieren. Die Frau schnaubte auch nur verächtlich über so viel Toleranz.

Währenddessen hatten die Dame und ihre junge Begleiterin die Straße überquert. Nun standen sie im Hof der Gärtnerei, wo man unter den Zweigen alter Kastanien die blühende Ware begutachten konnte. Der Glockenturm, Zugang zum Kirchhof und zugleich Wahrzeichen des historischen Ortskerns, schloss eine Seite des Hofes ab. Eine Hand gegen seine Mauer gestützt, beugte die Dame sich zu einer Schale Geranien hinunter. Auf der anderen Straßenseite vor dem Café glitzerte etwas auf dem Pflaster.

„Liegt da nicht etwas?“ fragte die Gemüsefrau kurzsichtig. Die andere Kundin spähte hinüber.

„Ja. So ein Anhänger. Den hat bestimmt das junge Mädchen fallen lassen. Da ist es noch. Hallo! Du hast etwas verloren!“

Von den Rufen peinlich berührt, beugte sich Rüdiger Hinrichs tief über die Kiste auf seinem Fahrradanhänger, in der er seinen Einkauf sorgsam verstaute. Das Mädchen drehte sich auf den Ruf hin um, die Dame richtete sich auf. Irritiert blickten sie zu den Frauen am Marktstand. Den winzigen Anhänger nahmen sie nicht wahr.

„Na los“, sagte die Marktfrau zu Rüdiger Hinrichs. „Bringen Sie der Kleinen, was sie verloren hat. Sie sind doch ein Mann.“ Auch die Kundin sah ihn erwartungsvoll an. Zu seinem Ärger errötete er.

Unbestreitbar war er ein Mann, wenn auch jenseits der Zeitspanne, die als die besten Jahre bezeichnet wurde. Mit einer Hand strich er sich über den Bart, warf dann einen unmutigen Blick auf die beiden Frauen und überquerte die Straße, wo er befremdet den pink glitzernden Teddybäranhänger aufhob. Nach seinem ersten flüchtigen Eindruck hätte er das Mädchen für zu alt gehalten, den Rucksack mit Stofftieren zu schmücken, und als er auf das Mädchen zuging, erkannte er, dass es tatsächlich schon fast erwachsen sein musste.

„Ihr Teddybär ist abgestürzt“, sagte er. Dabei kam er sich lächerlich vor. Das Mädchen würdigte ihn keines weiteren Blickes, sondern nahm den Bären liebevoll in Empfang. Die Dame lächelte an seiner Stelle.

„Danke vielmals. Das Bärchen muss abgefallen sein, als du mich zurückgezogen hast, Nina. Danke, nochmals vielen Dank. Schuld trägt nur dieser Schnösel auf dem Motorrad.“ Erwartungsvoll blickte sie Rüdiger Hinrichs an.

„Ja, sehr rücksichtslos“, gab der zu. Sie sprach, offensichtlich immer noch erregt, weiter.

„Und ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet. Ich meine, ich war mir so sicher, dass keine Autos kommen würden …“ Das Ende des Satzes ließ sie offen.

Rüdiger Hinrichs sah sich unter Zugzwang.

„Glücklicherweise ist ja nichts passiert. Ihre aufmerksame …“, er rang mit der Plattitüde, „…Tochter hat Sie ja festgehalten.“

Das Mädchen versuchte, den Bären mittels eines Miniaturkarabinerhakens am Rucksack zu befestigen. Ohne aufzusehen lachte es. Die Dame schüttelte den Kopf.

„Meine Enkelin. Vielen Dank, aber ich bin nicht mehr vierzig.“

Rüdiger Hinrichs hatte geahnt, dass sein Kompliment ins Leere laufen würde. Er nickte. Nichtsdestoweniger meinte er, noch mehr sagen zu müssen. Aber nun sahen ihn beide an, Enkelin und Großmutter. Sofort hatte er nur noch sein Fahrrad mit den Kartoffeln im Sinn.

„Ja, dann will ich mal wieder“, murmelte er eilig und wollte sich abwenden.

„Ist dieser Markt günstig?“ fragte nun die Dame. „Ich wohne erst seit ein paar Tagen hier in Wardenburg.“

Verstört musterte er sie.

„Ja, ja. Frische Bioware. Schönen Tag noch.“

Er eilte über die Straße zu seinem Fahrrad. Niemand hielt ihn auf. Als er den beladenen Anhänger an der Gärtnerei vorbeizog, waren die beiden Frauen weitergegangen. Er sah sie die Friedrichstraße in Richtung des Rathauses entlangschlendern. Eilig bog er in die andere Richtung und radelte aus dem Ort.

*

Weit war sein Weg nicht. Kurz hinter dem Ortsausgang, wo die Friedrichstraße zur Wardenburger Straße wurde, bog ein Pfad ab. Nur der graue Briefkasten verriet, dass es sich um die Zufahrt eines Hauses handelte. Zwischen Holunderbüschen und Ebereschen fuhr Rüdiger Hinrichs beinahe hundert Meter bis zu dem roten Ziegelgebäude, das er, in Anbetracht der Tatsache, dass er dort wohnte, als sein Heim bezeichnen musste. Heimisch fühlte er sich darin nicht, aber er bewohnte das Haus jetzt fast zwanzig Jahre und nutzte es wie ein Tier seinen Bau. Für ihn war das Haus lediglich ein Platz zum Schlafen und Essen.

Während er in der Küche das Gemüse verstaute, dachte er an seine Begegnung auf dem Markt. Die Enkelin war jung, in seinem Denken ein Mädchen, und aufgrund ihrer Jugend zu ignorieren. Er bedauerte, nicht mehr zu der Dame gesagt zu haben. Diese Dame, er mochte sie nicht lapidar als Frau bezeichnen, war freundlich gewesen. Doch daran war nichts Besonderes. Im Grunde war es sogar selbstverständlich, hatte er ihrer Enkelin doch einen Dienst erwiesen. Deshalb bedeutete ihr Lächeln nichts und sein Schweigen ebenso wenig, denn er hätte nichts Sinnvolles hinzufügen können.

Das von Rüdiger Hinrichs bewohnte Haus lag am Ende eines schmalen Grundstücks, dessen Zuschnitt in etwa der Form eines Tortenstücks entsprach. Der breiteste Teil des Areals lag an der Straße. In Richtung des Hauses, das beinahe am schmalsten Punkt stand, lief das Grundstück immer spitzer zu, bis es in einem Graben zwanzig Meter hinter dem Haus endete. Dahinter stieß das Land von drei Gehöften aneinander. Die Sicht auf die umliegenden Wiesen und Äcker wurde jedoch von einem hoch wuchernden Wall aus Brombeerranken genommen. Was darunter lag, ob ein Zaun oder ein Gebüsch, konnte man nicht mehr erkennen.

Der Boden um das Haus herum war feucht und möglicherweise fruchtbar, doch Rüdiger Hinrichs hatte den Garten vernachlässigt. Es gab ein paar alte Obstbäume, an denen trotz der mangelnden Pflege noch kleine Früchte reiften, es gab die Brombeeren und außerdem noch zahlreiche Brennnesseln. Efeu bedeckte einen großen Teil der Fassade. In diesem Jahr hatte er noch nicht die Fenster der oberen Etage von den jungen Ranken freigeschnitten. Er war auch nicht sicher, ob er es noch tun würde. Jetzt, im späten August, wäre eine gute Zeit dazu, doch er besaß keine Vorstellung darüber, wo die Gartenschere liegen könnte. Seine Frau hatte zuletzt behauptet, kleine Wesen trügen alle Werkzeuge fort, aber so wollte er sich nicht herausreden. Die Schere zu suchen wäre einfach mühsam, und außer ihm würde niemand sehen, ob die Fenster freigeschnitten wären oder nicht.

Im Inneren des Hauses herrschte stets Dämmerung. Das kam von dem Efeu über den Fenstern, von der Hecke und den Bäumen, die fast alles Sonnenlicht abhielten. Die grün tapezierten Wände trugen das ihrige dazu bei. Rüdiger Hinrichs hatte sich anfangs gefragt, was die Vorbesitzer zu dieser Farbwahl veranlasst haben mochte. Diese Frage stellte er nicht mehr. Das Haus hatte etwas Organisches, die grüne Tapete und der schwache, aber eindeutige Geruch nach Kartoffeln verstärkten den Eindruck, waren aber nicht hauptverantwortlich. Seine Frau, deren Elfenglauben ihm in der Anfangszeit reizend erschienen war, hatte bei ihrem Einzug behauptet, das Haus besäße eine Seele. Aus diesem Grunde hatte sie sich auch geweigert, die grünen Tapeten zu entfernen. Möglicherweise hatte sie recht gehabt. Darüber wollte er nicht länger spekulieren. Sie lag nun drüben in Wardenburg auf dem Friedhof, und er hatte Haus und Grundstück für sich und eventuelle kleine Wesen.

Einsam fühlte er sich meist nicht, aber manchmal wurde ihm die Zeit lang. Dann nahm er sein Fahrrad und radelte über Land, entlang der geraden Straßen neben geraden Gräben, mit denen man das Moor entwässert hatte, oder über gewundene Feldwege in die Geest, wo Sand die Wege bedeckte. Mittlerweile kannte er die Region gut. Er war über die Dörfer geradelt und hatte Kirchen und historische Gebäude betrachtet. Zu anderen Zeiten hatte er Wissen erworben, für einen richtigen Beruf in einem richtigen Leben gelernt. Dieses Wissen nutzte ihm heute noch, bei seinen Besichtigungen und bei der Arbeit. Zu dem richtigen Leben war es jedoch nicht gekommen. Ob er das jetzt noch bereute, konnte er allerdings nicht mit Eindeutigkeit sagen. Mit seiner Frau hatte er geglaubt, nochmals Einlass in dieses richtige Leben zu finden. Damals war es dafür noch nicht zu spät gewesen, jedenfalls war es ihm bei ihrem Kennenlernen plötzlich so erschienen, als sei ein Neuanfang möglich.

Violetta, so hatte Rüdiger Hinrichs glauben wollen, war unbeschadet aus den transzendentalen Siebzigern in die biologisch-dynamische Landkommunenszene der Achtziger des vergangenen Jahrhunderts gedriftet. Kurz nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl war sie auf einer Protestveranstaltung gegen Atomkraft, in fliederfarbenen Tüll gehüllt, einer Fee gleich, zwischen den handgestrickten Wollpullovern der übrigen Demonstranten hindurchgeschwebt. Trotz seiner Faszination hatte er von dem zarten Geschöpf Abstand gehalten, bis ihm die Einsicht gekommen war, diese Fee mit ihren Falten und grauen Strähnen sei seinem eigenen Alter zumindest sehr nahe. Da hatte er sie näherkommen lassen, aber nur, wie er sich sagte, um sich zu vergewissern, dass es sich bei ihr nicht um eines der jungen Mädchen handelte, die politischen Protest mit Drogenkonsum gleichsetzten.

Unerwartet war sie direkt vor ihm stehen geblieben und hatte ihn auf die Elfe auf seiner Schulter angesprochen. Von dieser Elfe hatte er bis dahin nichts gewusst und deshalb nachgefragt. Erst war er überrumpelt gewesen, in der Folge aber hatte sich ein Gespräch entsponnen. Zwei Tage später war er zu ihr in die Landkommune gezogen. Für diese Entscheidung kamen weder Leidenschaft noch Berechnung als Anlass in Frage. Rüdiger Hinrichs hatte getan, was ihm als der nächstliegende Schritt erschienen war. Auf jenem abgelegenen Hof lebten damals außer einigen verbissenen Neulandwirten zahlreiche Elfen. So jedenfalls versicherte Violetta Hinrichs jedem Hofbewohner glaubhaft, und keiner erhob Widerspruch. Wie sie auf die übrige Mitbewohnerschaft wirkte, wusste er nicht zu sagen, doch ihn hatte sie fasziniert.

Ihre unerwartet praktischen Kenntnisse über die Landwirtschaft rührten noch von ihrer Jugend auf einem ostfriesischen Bauernhof her. Anscheinend waren auch dort schon die Obstbäume von Elfen besiedelt gewesen. Ihr Wissen aus dieser Zeit hatte Violetta halbe Tage in einer konventionellen Gärtnerei eingesetzt, und mit ihrem Lohn hatte sie die Kommunarden finanziell abgesichert. Violetta war es auch gewesen, die binnen weniger Wochen um seine Hand angehalten hatte. Bald nach ihrer Heirat hatten sie die Landkommune verlassen, waren einen Sommer lang über Land gezogen und hatten im Freien übernachtet, stets unter dem Schutz wohlmeinender Elfen.

Schließlich war Violetta auf einen Pferdehof mit spiritueller Mission gestoßen. Dort arbeiteten sie beide, auch Rüdiger Hinrichs, der seine Kenntnisse aus dem früheren Leben nutzbringend einsetzen konnte. Bald darauf hatte Violetta entschieden, in ihrem Alter müssten sie sesshaft werden, und mit ihrem Erbteil vom elterlichen Hof das Haus bei Wardenburg gekauft. Von diesem neuen Leben war er recht angetan gewesen. Nachdem er auch Violettas Namen Hinrichs angenommen hatte, wäre er nunmehr unauffindbar.

Dann jedoch, möglicherweise von der nahen Erdgasförderanlage angelockt, waren Kobolde auf das Tortengrundstück gezogen, und sämtliche Elfen waren geflohen. Die Kobolde hätten in Haus und Garten ein Terrorregime geführt, wie Violetta zu der Zeit behauptete. Rüdiger Hinrichs seinerseits hatte festgestellt, dass Gegenstände verlegt wurden oder sich in Luft auflösten und Geräte streikten. Ein Kurzschluss an der zwanzig Jahre alten Waschmaschine hatte schließlich Violettas irdisches Leben beendet.

Rüdiger Hinrichs trauerte nicht um seine Frau, aber er bedauerte ihren Tod. Mit ihr gingen Hoffnungen, von denen sie nichts gewusst hatte. Er hatte geglaubt, durch sie könne er ein neuer Mensch werden. Mit Mitte sechzig, nach zehn Jahren getarnt als Violetta Hinrichs Ehemann, erkannte er jedoch die Unmöglichkeit solch einer Metamorphose. Er würde immer bleiben, was er war und wer er war, bestenfalls einer, der die Verantwortung für sein eigenes Scheitern trüge, im schlimmsten Falle ein Täter. Daher wohnte er in dem Haus auf dem Tortengrundstück, wo weiterhin Gegenstände zu wandern schienen, wenn sich auch diese scheinbar grundlosen Wanderungen Jahr für Jahr weniger bemerkbar machten, und arbeitete nach wie vor auf dem Pferdehof. Er lebte weiter und wartete, was das Leben noch an Überraschungen für ihn bereit hielte.

Kapitel 2

Seine Dame, diesmal ohne Enkelin, traf Rüdiger Hinrichs genau eine Woche nach ihrer ersten Begegnung auf dem Wardenburger Wochenmarkt wieder.

„Sie sagten ja, die Ware hier sei frisch und biologisch. Ich dachte, ich probiere sie einfach mal aus“, teilte sie ihm ohne Begrüßung mit. Er fühlte bei seiner Antwort die scharfen Augen der Marktfrau auf sich.

„Ich kaufe immer hier ein.“ Das stimmte zwar, er fürchtete dennoch, bei der Marktfrau in Ungnade zu geraten.

Die Dame kaufte in halben Kilogramm-Mengen. Ob sie das tat, weil sie Biogemüse für teuer hielt oder nur für eine Person einkaufte, ließ sich nicht sagen. Er spekulierte über ihre Gründe, rief sich zur Ordnung und konzentrierte seine Gedanken auf den eigenen Einkauf. Sie zahlte derweil, dabei warf sie ihm einen Blick zu, und verabschiedete sich. Er sah ihr nach. Es war ihm, als habe er etwas unterlassen, was er unbedingt hätte tun sollen. Nun war er an der Reihe. Er erinnerte sich seiner inneren Einkaufsliste und dachte sogar an das Bezahlen. Anschließend packte er die Ware in seinen Fahrradanhänger. Dann schob er sein Fahrrad über das letzte Stück des Patenbergswegs in Richtung des Gemeindebaums, zufällig in die Richtung, welche die Dame eingeschlagen hatte.

Tatsächlich war sie nicht weiter als bis zum Gemeindebaum gekommen. Dort stand sie mit ihren Einkäufen und las die Namen der Ortschaften Wardenburgs, die sich auf runden Plaketten spiralförmig um den Baum rankten. Zuvor hatte sie, wie sie ihm später sagte, nach den Öffnungszeiten der Bücherei gesehen.

„Ich bin es von zu Hause nicht gewöhnt, so viele Einrichtungen an einem Ort zu finden. Das ist wirklich angenehm“, bemerkte sie, als er sie einholte, so als habe sie auf ihn gewartet.

Rüdiger Hinrichs betrachtete die Plastikbeutel, die man ihr am Biogemüsestand für die in Papier eingeschlagene Ware ausgehändigt hatte. Sie zogen sich trotz der halben Kilogramm-Mengen an den Henkeln zu dünnen Schnüren zusammen, die ihr in die Hände schnitten.

„Ich könnte Ihr Gemüse transportieren“, teilte er ihr mit. Ein direktes Angebot war es nicht, aber er hoffte, sie würde annehmen. Mit Sicherheit wägte sie ab, ob sie eine Verpflichtung einginge, nähme sie seine Offerte an, denn sie musterte ihn einen Moment lang skeptisch. Zwar konnte er sich nicht vorstellen, wie sie sich ihm verpflichten sollte, möglicherweise aber wirkte sein Erscheinungsbild abschreckend. Das Hemd hatte bessere Tage gesehen, den Bart hätte er vor Wochen stutzen sollen. Rüdiger Hinrichs wusste, dass er auch für einen Ort der Größe Wardenburgs bestenfalls rustikal wirkte.

„Ich möchte Ihnen keine Umstände machen“, erklärte sie unterdessen. Ihre Finger um die weißen Tütenhenkel sahen sehr rot aus. „Ich wohne ganz in der Nähe. Ich muss nicht mehr weit gehen.“

„Ihre Hände tun bestimmt weh“, sagte er, überrascht von seiner eigenen Aufmerksamkeit.

Sie zögerte, immer noch unschlüssig.

„Das ist sehr freundlich.“

Ihrem Tonfall entnahm er ein Nachgeben. Eilig streckte er die Hände nach den Tüten aus, erhielt eine nach der anderen und verteilte sie in seinem Anhänger. Schweigend schob er dann das Fahrrad weiter, als Schutzwall zwischen ihnen der Rahmen. Nach einigen Schritten wies sie auf die Ampel.

„Wir müssen auf die andere Straßenseite.“

Er bediente den Signalknopf. Die Autos hielten an. Sie überquerten die Oldenburger Straße, wobei er darauf achtete, dass der Fahrradrahmen weiterhin zwischen ihnen blieb.

„Sie wohnen noch nicht lange hier, sagten Sie“, tastete er sich in ein Gespräch. Sie nickte.

„Seit letzter Woche.“

„Dort in den Altenwohnungen?“ erkundigte er sich und errötete prompt. Am liebsten hätte er die Zunge wegen dieser unbedachten Bemerkung verschluckt.

Nun zögerte sie, als überdächte sie seine Worte.

„Ja. In den Seniorenwohnungen. Ist das nicht lächerlich? Dieses Wort?“

Erleichtert nickte er. Es war lächerlich. Niemand, der diese Dame sah, hätte die Bezeichnung Seniorin für angemessen gehalten.

Keine drei Minuten später standen sie vor besagtem Gebäude.

„Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ erkundigte sie sich. Es klang so, als meinte sie es ernst.

„Das wäre sehr nett. Ich trage Ihnen die Taschen hoch. Nein, sehen Sie, ich nehme die ganze Kiste. Ich möchte meine Zwiebeln nicht hier unten lassen.“

„Um Gottes willen, natürlich nehmen Sie alles mit.“

Sie beobachtete, wie er die Befestigungsriegel öffnete und die Kiste aus dem Anhängergestell hob.

„Das ist ja praktisch“, stellte sie fest. Die Bemerkung klang aufrichtig, nicht wie die höflichen Worte einer Dame, der eine unverständliche mechanische Konstruktion vorgeführt wurde.

Bescheiden nickte er.

„Das habe ich entwickelt“, gab er zu, als sei dieser Mechanismus von geringer Bedeutung. Stolz auf seine Erfindungen empfand er auch tatsächlich nicht. Seine Vergangenheit ließ sich eben nicht völlig verleugnen.

Inzwischen schloss sie die Haustür auf, und gemeinsam stiegen sie die Treppe hoch, ohne den behindertenfreundlichen Fahrstuhl zu beachten. Den hatten Tochter und Schwiegersohn beim Einzug für den Möbeltransport benutzt, erfuhr er nun, als er seine Kiste in die ordentliche Küche trug, wo ihr Gemüse sogleich verstaut wurde. Alles hier oben war hell, praktisch, übersichtlich und trotz der Spätsommersonne angenehm kühl, ohne Kartoffelodeur. Vom Chaos eines frisch vollzogenen Umzugs war nichts zu sehen. Die Wohnung roch neu, nach neuer Farbe an den Wänden, nach neuem Laminat am Boden, nach der neuen Einbauküche. Im Wohnzimmer stammten die Möbel jedoch offensichtlich noch aus einer früheren Wohnung, vielleicht einem Eigenheim.

In jenem Wohnzimmer, wo Rüdiger Hinrichs es sich gemütlich machen sollte, zierten gerahmte Photos die Wände. Der Anordnung nach stellten sie eine Art Familiengalerie dar. Da gab es ein Haus im Bungalowstil der sechziger Jahre, im Hintergrund grüne Hügel und ein fernes Dorf. Da sah man auf mehreren Bildern und in verschiedenen Altersstufen einen Mann, bereits auf dem Hochzeitsbild ein wenig korpulent. Da war ein Kind, das zur jungen Frau mit hochgeföhntem Kurzhaarschnitt in den Achtzigern und im Kostüm mit langer Lockenmähne in den Neunzigern heranwuchs und alsdann gereift mit eleganter Hochsteckfrisur in den frühen Jahren des neuen Jahrtausends posierte. Da war ein weiteres Hochzeitsbild, da waren Babybilder und Kinderbilder und ein Porträt der Enkelin, wie er sie gesehen hatte. Die Landschaft im Hintergrund der meisten Bilder erschien ihm unbekannt, obwohl sie Anklänge an seine alte Heimat aufwies. Doch offensichtlich lagen diese Hügel und Wälder in einem anderen Teil Deutschlands, so wie die Stimme der Dame in anderen Akzenten klang.

„Ich bin übrigens Klara Prüm.“ Sie war neben ihn getreten. Mit dem Wasserglas in ihrer Rechten wies sie auf den korpulenten Mann neben einem roten Mercedes. „Das war mein Mann. Nehmen Sie doch ein Glas Wasser, bis der Kaffee fertig ist.“

Er nahm das Glas.

„Danke. Ich bin Rüdiger Hinrichs. Wo ist das?“ Er zeigte vage auf das Haus.

„In der Eifel. Kalterherberg. Sie haben bestimmt nie davon gehört.“

Das traf zu, obwohl er wusste, wo er die Eifel auf der Landkarte suchen sollte.

„Mein Mann ist letztes Jahr gestorben. Meine Tochter arbeitet in Oldenburg. Sie meinte, es wäre besser für mich, wenn ich in ihrer Nähe wohne. Nun wohne ich in ihrer Nähe.“ Sie zuckte mit den Schultern und verschwand wieder in der Küche.

Es roch schon angenehm nach Kaffee, nach richtigem Kaffee, wie er ihn kaum zu trinken bekam. Das Gurgeln der Kaffeemaschine klang nach langer Abstinenz angenehm vertraut. Rüdiger Hinrichs seufzte tief.

„Das tut mir leid. Mit Ihrem Mann.“ Es klang nicht angemessen in seinen Ohren. Wie er es geschickter hätte formulieren können, wusste er nicht, doch er versuchte eine Verbesserung. „Ich bin auch verwitwet. Seit mehr als zehn Jahren.“ Ob das wirklich eine Verbesserung war, vermochte er nun nicht mehr zu sagen. Aber er hatte es ausgesprochen.

Frau Klara Prüm erschien in der Küchentür.

„Ich nehme an, in unserem Alter ist das nicht ungewöhnlich.“

Er war nicht sicher, ob ihre Feststellung so zutraf. Er kannte nur wenige Menschen, weswegen er ihrer beider Lebensverhältnisse nicht verallgemeinern wollte. Dennoch nickte er zustimmend. Klara Prüm trug ein Tablett mit dem Kaffeegeschirr herein.

„Man kann sich auch auf den Balkon setzen“, meinte sie. „Doch da ist es jetzt am Nachmittag zu schattig. Im Sommer ist das sicher angenehm, jetzt frühstücke ich dort nur.“

Es war nicht an ihm, die Wahl des Ortes für das Kaffeetrinken zu kritisieren. Auf dem Couchtisch hatte sie eingedeckt, also nahm er auf dem Sofa Platz. Seit sehr langer Zeit, gab er sich gegenüber zu, hatte er so nicht mehr Kaffee getrunken. Dann saßen sie beisammen an dem kleinen Tisch, und ehe er sich versah, befand er sich in einem Gespräch. Oberflächlich betrachtet war es eine angeregte Unterhaltung. Einem aufmerksamen Beobachter wäre vielleicht aufgefallen, dass Klara Prüm erzählte und Rüdiger Hinrichs Zustimmung brummend die Hintergrundmusik lieferte. Hätte man noch genauer hingesehen und sich an seinen Anblick von vor ungefähr einer Stunde erinnert, wäre man sogar zu dem Schluss gekommen, er säße bei aller Einsilbigkeit zufrieden da. Das jedoch wäre ein Fehlschluss gewesen, denn er saß angespannt in Erwartung eines Angriffs durch diese lebenslustige ältere Dame.

Er war wegen eines Getränks zu ihr hinaufgegangen, wegen eines Angebots aus unverbindlicher Höflichkeit, welches er gerne abgelehnt hätte, weil er der Unverbindlichkeit misstraute. Weshalb er ihr nicht traute, hätte er nicht zu sagen vermocht. Es war ein tiefes Misstrauen, welches ihn seit Jahrzehnten verfolgte und sich beispielsweise jetzt in der Erwartung äußerte, in der Abgeschiedenheit ihres Wohnzimmers werde sie mit dem Finger auf ihn zeigen und beweisen, dass sie genau wüsste, wer er sei.

Dergleichen war bislang nie geschehen. Die wenigen Personen, zu denen näherer Kontakt unvermeidlich gewesen war, hatten nur seinen momentanen Nutzen vor Augen gehabt, seine Vergangenheit, alles, was länger als sechzig Minuten zurücklag, ohne jede Bedeutung. Auch jetzt im Wohnzimmer der Klara Prüm, mit dem ungewohnten Singsang ihres Eifelakzents im Ohr, spielte die Vergangenheit des Mannes, der heute Rüdiger Hinrichs hieß, keine Rolle.

Klara Prüm sprach. Sonnenlicht fiel durch das Fenster auf sie und ließ die braune Iris in dieser seitlichen Beleuchtung transparent wie eine Glasperle erscheinen. Ihre sicherlich gefärbten Haare glänzten in einem modischen Kastanienbraun, der Goldschmuck, nicht billig, aber auch keine Preziosen, fing mit ihren lebhaften Gesten Sonnenstrahlen auf und reflektierte bewegte Lichtspuren auf die gegenüberliegende Wand. Wie alt sie sein mochte, fragte sich Rüdiger Hinrichs durchaus nicht ohne männliches Interesse. Vermutlich war sie jünger als er, auf jeden Fall besser erhalten, augenscheinlich die Art Frau, die seine Mutter als patent bezeichnet hätte.

Als Mädchen, erkannte er mit schlechtem Gewissen, wäre sie nicht hübsch gewesen. Vermutlich hätte sie, wie ihre Enkelin nun, einen netten Anblick geboten, doch die Jugend hätte ihr nicht gut zu Gesicht gestanden in einer Zeit, als die Hilfsmittel der Schönheit rar, teuer und verpönt gewesen waren. Auf der Straße waren ihm diese Mittel nicht aufgefallen, doch jetzt, unter den Sonnenstrahlen durch das Wohnzimmerfenster glänzte und glitzerte, was ansonsten nur konturierte und nuancierte. Das Ergebnis war ansprechend, wie er sich bereitwillig zugab.

Während Rüdiger Hinrichs auf einem soliden Polstermöbel saß und seine Gastgeberin betrachtete, schlich sich bei ihm die Gewissheit ein, dass sie, gut gestellt und in eine Familie eingebunden, für jemanden wie ihn kein Interesse aufbringen sollte. Zu schäbig saß er auf dem Sofa, zu vernachlässigt war sein Erscheinungsbild. Dieses hatte er bewusst so gestaltet, doch das konnte sie nicht ahnen. Sie sollte es nicht ahnen, nicht sie und auch sonst niemand. Was wäre, käme Klara Prüm in ihrer geradlinigen Art zu dem Schluss, er sei trotz fransigen, langen Bartes geeignet für eine Bekanntschaft, wollte er gar nicht in Erwägung ziehen. Violetta hatte sich von Bart und Hemd nicht schrecken lassen. Doch sie, wie Rüdiger Hinrichs nun wusste, war vermutlich mehr an der Elfe auf seiner Schulter interessiert gewesen und hatte den Mann neben der Elfe hingenommen.

Klara Prüm würde die Elfe, sofern sie noch dasäße, nicht wahrnehmen, sähe auch nicht die Kobolde in seinem Garten. Sie benötigte ihn nicht, und mit dem Ziel, ihnen beiden dies zu beweisen, spielte er mit dem Gedanken, den Marktstand ihres Kennenlernens nicht mehr aufzusuchen und sie so aus seinem Leben zu entfernen, ehe sie darin Fuß fassen könnte. In den Nachbarorten Wardenburgs fanden ebenfalls Märkte für seine Einkäufe statt. Dorthin zu radeln wäre eine geringe zusätzliche Mühe, leicht in seinen Alltag einzuflechten und ein sicherer Schutz gegen den aufkeimenden Wunsch nach Nähe zu der Dame.

Diese Nähe, so rief Rüdiger Hinrichs sich zur Ordnung, könnte sowieso nie über vage Gespräche hinausgehen. Irgendwann wären die Berichte von seiner Ehe nicht weit genug in der Vergangenheit angesiedelt. Irgendwann käme die Frage nach seiner Heimat und seiner Familie auf. Sie, die ihm so unbefangen von Ehemann und Tochter, von Schwiegersohn und Enkelin berichtet hatte, würde über ihre eigene Kindheit sprechen und nach der seinigen fragen. Doch all das gab es nicht mehr für ihn. Er hatte die frühen Jahrzehnte seines Lebens ausgelöscht. Seine Existenz begann später als die seiner Mitmenschen und war unauffälliger verlaufen. Nähe, Wärme, schlichte Worte, möglicherweise sogar weitere Tassen Bohnenkaffee mit Sahne würden sichtbar und fühlbar machen, was verborgen bleiben sollte.

Obwohl er all das fühlte und obwohl er um die Notwendigkeit des Rückzugs wusste, blieb Rüdiger Hinrichs auf dem Sofa sitzen. Und obwohl es vielleicht schon zu diesem Zeitpunkt nahegelegen hätte, ihn nach seiner ferneren Vergangenheit zu fragen, beließ Klara Prüm es bei Violetta. Möglicherweise vermutete sie eine längere und früher geschlossene Ehe, vielleicht glaubte sie auch, wenn Violetta von einem ostfriesischen Bauernhof stammte, habe Rüdiger Hinrichs einen vergleichbaren Hintergrund. Zweifellos aber ginge sie davon aus, Hinrichs sei der Name des Ehemannes, sein Name von Geburt an. Vom Klang des Namens her gäbe es für sie wenig Anlass, seine Herkunft in einem vollkommen anderen Teil Deutschlands zu vermuten.

Tatsächlich stellte sie nichts in Frage und nahm die wenigen von Rüdiger Hinrichs bescheiden herausgebenden Informationen arglos hin. Dabei wäre sie in anderen Lebensbereichen kaum eine leichtgläubige Person, so weit sah er hinter die schimmernden Augen. Da waren Züge um den Mund, die ahnen ließen, wie patent und findig diese Dame wäre. Besonders solchen Menschen war er immer ausgewichen. Viele Jahrzehnte hatte er sie gemieden, weil er hinter der Bodenständigkeit quasi hellseherische Talente befürchtete. Anziehend waren Frauen wie sie trotzdem, und er war sich bewusst, wäre er nur zwanzig Jahre jünger, ließe er wahrscheinlich seine Abwehr vor Klara Prüm fallen.

Ein wenig ließ er sie auch jetzt fallen. In dieser Atmosphäre aus Licht und Kaffeedunst, hochwertigem Konfekt und dieser weichen Polstermöbel wurde er zutraulich wie ein schlecht erzogener Wachhund, dem ein Fremder eine Wurst hinhält. Zwar schleckte er Klara Prüm nicht die Hand, doch er wurde gemessen an seinem üblichen unbehaglichen Schweigen gesprächig. Vor fünfzig Jahren hätte er sie gefragt, ob er sie wiedersehen dürfe, damals hätte er so etwas Gewagtes tatsächlich getan, leichtfertig wie er da noch gewesen war. Fünfzig Jahre waren jedoch offensichtlich nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. So war sie es, die vorschlug, dass sie ihn in seinem Haus besuchte.

„Meine Tochter hat mir bereits ein Fahrrad besorgt. Sie meinte zwar, radfahren in meinem Alter sei viel zu riskant. Ich habe es auch noch nicht benutzt, aber als junges Mädchen bin ich natürlich Fahrrad gefahren. Das war schon etwas anderes als hier, wo alles eben ist. Da ging es bergauf und bergab. Bis zu Ihrem Haus werde ich es wohl schaffen, Herr Hinrichs. Das heißt, falls Sie nicht zu weit von hier wohnen.“

Ihr Vorschlag traf ihn so vollkommen unerwartet, dass er überlegen musste, ob es gerechtfertigt wäre zu behaupten, er wohne nicht zu weit von ihrer Wohnung entfernt.

„Drei oder vier Kilometer“, brachte er heraus.

Sie lachte.

„Oh, das schaffe ich bestimmt auf diesen schönen, flachen Straßen hier. Wie ist denn Ihre Adresse?“

Vor fünfzig Jahren wäre er bei dieser Frage geflohen, weil eine respektable Frau sie nicht gestellt hätte. Nun spürte Rüdiger Hinrichs zwar auch diesen Impuls, wenn auch aus anderen Gründen. Er rang jedoch mit sich und blieb sitzen. Konzentration war angezeigt. Er nannte ihr die Adresse und, weil bei seinem Grundstück der Straßenname eher irritierte als half, beschrieb er ihr den Weg vom Glockenturm aus. Mit einem Kugelschreiber, auf dem die Adresse einer Apotheke in einem Ort namens Monschau zu lesen war, notierte sie seine Angaben. Die Notizen wurden routiniert und leserlich geschrieben, als sei es eine ihr geläufige Tätigkeit. Dies nahm er wahr und fühlte sich in der Vermutung, sie sei eine patente Dame, bestätigt. Panik wallte in ihm auf, doch er kämpfte sie nieder.

„Ein Besuch wäre nett“, murmelte er.

Wieder war da diese Sprachlosigkeit, die ihn Worte ohne Bedeutung sagen ließ. Doch Klara Prüm nickte nur und musterte ihn. Er war sich des fransigen Bartes über dem Hemd bewusst und auch des Hemdes selbst, dessen verwaschene Farbe irgendwo zwischen Pink, Orange und, zumindest stellenweise, Lila lag. Seine Jeans waren so verbeult und verschossen, wie es nur an einem Zwanzigjährigen attraktiv wirken konnte, falls dieser Zwanzigjährige außerdem über die Züge eines James Dean verfügte. Aktuellere männliche Idole waren ihm nicht bekannt.

„Wissen Sie was? Ich bringe uns einen Kuchen mit. Ja? Wann soll ich kommen?“ hörte er Klara Prüms Stimme.

Fassungslos ob ihrer ungerührten Frage begann Rüdiger Hinrichs zu überlegen, welcher seiner zahlreichen freien Nachmittage passte. Seine Arbeitseinsätze auf dem Pferdehof spielten keine Rolle, er arbeitete dort nach Lust und Laune, die Flexibilität ganz in seinem Sinne, auch wenn er sich zurückhalten musste, nicht zu viel zu arbeiten. Es war deshalb nicht so, dass es für ihn viel zu überlegen gäbe, wann er Zeit hätte. Vielmehr wollte er nicht ungeduldig erscheinen oder, schlimmer, wie ein alter Mann, der über zu viel freie Zeit verfügte.

„Vielleicht gleich morgen?“ fragte sie.

Erleichtert nickte er.

„Ja. Morgen passt gut.“ Wieder sahen sie sich an.

Danach hielt ihn nichts mehr in ihrer Wohnung. Er musste hinaus aus dieser Wohlfühlatmosphäre, ehe er sich in allem öffnete und seine Lebensgeschichte offenbarte. Das wäre fatal gewesen, insbesondere, weil es zu einem abrupten Ende ihrer Bekanntschaft führen würde, sollte Frau Klara Prüm jemals hören, wem sie Kaffee und Kekse angeboten hatte. So freundlich es ihm möglich war, verabschiedete Rüdiger Hinrichs sich und floh mit seiner Kiste Gemüse hinaus auf die Straße. Dort stand er bei seinem Fahrrad und hielt die Kiste vor der Brust umklammert.

Niemand beachtete ihn, denn Menschen seines Alters taten seltsame Dinge. Sie konnten starr dastehen, Statuen gleich, und verharren. Von dieser Eigenschaft des Verharrenkönnens in Positionen, die nicht störten und auch nicht verstörten, ließ sich niemand überraschen. Dessen war Rüdiger Hinrichs sich mit den Jahren bewusst geworden. Er neigte ansonsten nicht zum Verharren, eher befand er sich unauffällig auf dem Rückzug. Aber nun verharrte er. Er stand mit seiner Kiste, immerhin zwölf Kilogramm Holz und Gemüse in Quaderform, an der Haustür und blickte in sich hinein. Was er dort sah, verunsicherte ihn zutiefst.

Doch dann sagte er sich, der Bohnenkaffee, der hohe Zuckergehalt des Konfekts und der Kekse, all die guten Dinge, die er sich sonst aus Prinzip versagte, seien ihm zu Kopfe gestiegen und verantwortlich für seine Unruhe. Mit einem tiefen Atemzug setzte er die Kiste in den Anhängerrahmen, wo er sie sorgfältig befestigte. Langsam öffnete er das Fahrradschloss und schob sein Gefährt Richtung Ampel. Ebenso langsam überquerte er die Oldenburger Straße, schob langsam das Rad den Patenbergsweg weiter bis zum Wochenmarkt, am Glockenturm vorbei zur Friedrichstraße und weiter zum Ortsausgang. Den gesamten Weg zu seinem Haus schob er Fahrrad und Anhänger, obwohl das Gespann schwergängig war. Zu fahren getraute er sich nicht, denn er hatte ein Gefühl, als sei die Welt kurz davor, zur Seite zu kippen.

Kapitel 3

Den Abend über vermied Rüdiger Hinrichs das Grübeln. Er vermied es auch, an Klara Prüm zu denken. Das, sagte er sich mehrmals, während er einen Teil seiner Möhren zu einem Eintopf verarbeitete, sei absolut unsinnig und vollkommen lächerlich. Er rief sich sein Alter in Erinnerung. Die Siebzig war zwar längst überschritten, dennoch fühlte er sich keineswegs alt. Seit Jahrzehnten schien ihm sein körperlicher Zustand unverändert. Sicherlich ginge es ihm besser als vielen seiner Altersgenossen, sagte er sich sachlich, während er Petersilie hackte. Unbestreitbar war er jedoch nicht mehr Anfang zwanzig und deshalb auch ohne die Leichtfertigkeit und nicht zuletzt ohne die Gutgläubigkeit eines Mannes, dessen geistige Reife sich erst allmählich der körperlichen Entwicklung anzuschließen begann. Jedenfalls war er misstrauisch genug, sich selbst nicht zu trauen, weil er um die Möglichkeit verborgener Motive wusste.

Doch Grübelei hatte keine seiner Schwierigkeiten in der Vergangenheit überwunden, in der Gegenwart wäre sie auch keine Hilfe. Rüdiger Hinrichs streute die Petersilie über den Eintopf. Er setzte sich in seiner Küche zu Tisch, blickte durch das blinde Fenster auf einen knorrigen Apfelbaum und begann die stille Mahlzeit. Kein Radio existierte im Haus, kein Fernsehgerät, kein Telephon, kein Handy. Informationen benötigte er nicht. Er brauchte auch keine Unterhaltung. Was er brauchte, waren Nahrung und das Geld, diese zu beschaffen. Bohnenkaffee mit Sahne, Konfekt und Kekse, eine adrette Frau mit Ohrringen und getönten Haaren, ihr Lachen, ihr Erzählen, das Versprechen von Kuchen, all dessen bedurfte er keineswegs.

So sagte er sich, während er gründlich kauend seinen Möhreneintopf verzehrte. Dazu trank er Kräutertee in einer Mischung, wie sie auf dem Pferdehof zusammengestellt wurde. Gegen einen geringen Obolus erhielt er dort diesen Kräutertee, manchmal auch frische Kräuter, gelegentlich Eier, oft selbstgebackenes Brot. Die spirituelle Mission auf dem Pferdehof sagte ihm nicht zu, doch das verzieh man ihm für seine Dienste, wegen seines Alters natürlich auch, und man ließ ihn am Rande an der Hofgemeinschaft teilhaben. Dort sah er Menschen und Tiere und sprach mit beiden. Auf eine Klara Prüm wäre er nicht angewiesen.

Des Abends legte er sich entschlossen zur Ruhe und schlief traumlos. Aber am folgenden Morgen setzte etwas mit Panik vergleichbares ein, weil wenige Stunden später Frau Klara Prüm erschiene. Rüdiger Hinrichs sah sich in seiner Küche um, dabei führte er sich die helle Einbauküche, in die er am Vortag ihre Einkäufe getragen hatte, vor Augen. Die Unterschiede zwischen ihrer modernen Küche und seinen primitiven Gerätschaften ließen sich nicht als Frage des Stils wegreden.

Stöhnend schwang er sich auf sein Fahrrad und radelte zum Pferdehof, wo man ihn an diesem Tag nicht erwartete. Hinter dem Stall, gegen dessen Wand er gewöhnlich sein Fahrrad lehnte, traf er auf eine der Bewohnerinnen, die er sich selbst gegenüber Kommunardin nannte. Zwar war auch zu Rüdiger Hinrichs durchgedrungen, dass man heutzutage keine Kommunen mehr gründete und es aus diesem Grunde auch keine Kommunarden gab. Seine gedankliche und sprachliche Prägung aber stammte aus der Frühzeit dieser Lebensform, weshalb er nach wie vor auf dieses Wort zurückgriff. Er grüßte Valeska, die seines Wissens über keinen weiteren Namen verfügte, und wollte schon in den Stall schlüpfen, als sie ihn ansprach.

„Moin Rüdiger, was machst du denn hier? Wolltest du heute kommen?“

Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Valeska war nicht direkt die Chefin, so etwas gab es auf dem Pferdehof angeblich nicht, aber sie war unbestreitbar die Frau mit dem Überblick über die Finanzen.

„Das Fenster hinten in der Sattelkammer ist wieder defekt. Ich wollte die Scheibe befestigen, ehe sie bei einem Windstoß herausfällt. Das neue Glas hat Heinz bestellt.“

Er rechtfertigte sich vor einer Frau, die nur die Hälfte seiner Jahre zählte, wie er resigniert feststellte. Es war seltsam und auch unwürdig, aber er musste vor ihr begründen, weshalb er sich an seinem Arbeitsplatz aufhielt. Valeska trat näher, dabei wischte sie sich die Hände an der Hose ab.

„Ja, schon. Ist das denn wirklich so dringend?“

Er nickte bekräftigend.

„Wenn die Scheibe herausfällt, könnte sich jemand an den Scherben verletzen. Außerdem zieht es dann bis in den Stall. Das wäre nicht gut für die Pferde.“ In dem betroffenen Stall standen die Pferde einiger finanzkräftiger Wochenendreiter, deren Wohlwollen man nicht verlieren durfte.

Valeska nickte.

„Okay, dann erledige das mit dem Fenster. Aber nichts Großartiges. Wenn das Glas da ist, kannst du es ordentlich machen. Verstehst du?“

Es war ihr peinlich, das sah er, aber sie konnte nicht zulassen, dass er zu viel Zeit auf dem Pferdehof verbrachte, denn das kostete zu viel Geld.

„Alles klar, Valeska.“

Sie nickte.

Rüdiger Hinrichs betrat den Stall und ging in die Sattelkammer, wo er sich an dem Fenster zu schaffen machte. Valeska war ihm gefolgt. Sie hantierte an einem Regal, dann trat sie zu ihm und sah zu, wie er über den Rissen im Glas Klebestreifen befestigte.

„Komm nachher noch in die Küche. Kannst ein Brot mitnehmen. Janna hat gebacken.“

„Danke, aber das ist nicht nötig, Valeska.“

„Ach, lass man, Rüdiger. Hol dir das Brot. Okay?“

Ohne ein weiteres Wort ging sie. Durch das Fenster sah Rüdiger Hinrichs sie den Hof überqueren und das Hofgebäude betreten. Offensichtlich müsste er gleich wieder gehen. Sie hätte ein Auge auf ihn, und auch Janna in der Küche würde darauf achten, dass er rechtzeitig ginge. Also beendete er seine Arbeit, wusch sich eilig die Hände und trat ebenfalls ins Haus, wo es nach dem frisch gebackenen Brot roch. In der Küche war keine Janna zu sehen, aber Heinz, ein insgesamt sehr schmaler Mensch Ende vierzig, saß über ein Kassenbuch gebeugt am Tisch.

„Moin, Rüdiger“, murmelte er ohne aufzusehen.

Er erwiderte den Gruß.

„Valeska sagt, ich kann mir ein Brot mitnehmen.“ Heinz sah immer noch nicht auf, wies aber auf das Regal, wo an die zehn Brotlaibe zum Auskühlen lagen. Rüdiger Hinrichs nahm einen. Er blickte um sich. Heinz saß murmelnd über dem Kassenbuch, weit weg von der Welt um ihn herum. Von den übrigen Bewohnern war nichts zu sehen.

„Bis Montag“, sagte er und ging zur Tür. Von Heinz kam nur ein Geräusch, das als Gruß gelten sollte. Rüdiger Hinrichs steckte das Brot in seinen Rucksack und radelte wieder nach Hause. Keine Stunde war vergangen, seit er von dort aufgebrochen war.

Dann stand er wieder in seiner Küche, stöhnte nochmals und riss alle Fenster im Erdgeschoss auf. Zu lüften könne nicht schaden, sagte er sich. Er lüftete für sich, für das Haus, keinesfalls für seine Besucherin. Auch nur für ihn und seine Bedürfnisse reinigte er Toilette und Waschbecken im Bad, wischte er Tisch und Stühle ab und fegte einmal durch. Dann überfiel ihn tiefe Scham, dass er all diese Tätigkeiten ausgeführt hatte, als ob er etwas zu verbergen oder einer Klara Prüm etwas zu beweisen hätte.

Die kam ungefähr zur vereinbarten Zeit. In ihrem Fahrradkorb befand sich eine Kunststoffdose mit Deckel, darin transportierte sie den versprochenen Kuchen.

„Sie wohnen ja wirklich ganz nah an Wardenburg, Herr Hinrichs. Und ich bin ohne Probleme mit dem Fahrrad hierhergekommen. Meine Güte! Ich tue so, als wäre das eine Leistung.“

Sie hielt ihm lachend die Hand hin, und Rüdiger Hinrichs sah sich gezwungen, sie zu ergreifen und zu schütteln. Das Ritual mutete ihm seltsam an, nicht nur, weil er so lange niemanden mehr auf diese Weise begrüßt hatte. Es erschien ihm unpassend, ausgerechnet Klara Prüm so formal zu begrüßen. Obwohl sie das Händeschütteln initiiert hatte, war ihm, als erwarte sie eine andere Form des Willkommens von ihm. Der Gedanke erschreckte ihn zutiefst. Zwar besaß Rüdiger Hinrichs keine Vorstellung darüber, was sie erwartete, doch schon diese Unklarheit entnervte ihn.

„Schön, dass Sie es einrichten konnten“, brachte er heraus. Dieser Satz klang noch unangemessener, als das Ritual des Händeschüttelns es gewesen war. Klara Prüm zeigte jedoch weder Verwunderung noch Heiterkeit, als sie vor ihm das Haus betrat.

„So ein Garten mit Obstbäumen wirkt einfach romantisch“, bemerkte sie. „Wir hatten bei unserem Haus nur Rasen und Blumenbeete. Langweilig, eigentlich. Ich habe die Bauerngärten bewundert.“

Ehe Rüdiger Hinrichs selbst durch die Haustür schritt, warf er einen Blick auf die knorrigen Bäume, an denen überreife Früchte hingen. Ihr Duft erfüllte die Luft mit intensiver Süße. Romantisch hatte sie das genannt. Er zuckte ratlos mit den Schultern, ehe er ihr eilig in den engen Flur folgte, wo sie auf ihn wartete.

„Ich mag diese roten Ziegelhäuser hier im Norden sehr. Bei uns in der Eifel sind die Häuser meistens mit unverputztem Bruchstein gemauert oder weiß gekalkt. Auch hübsch anzusehen, aber ein kalter Anblick im Winter.“ Sie betraten die Küche.

„Sind die Winter in der Eifel hart?“ erkundigte sich Rüdiger Hinrichs, um etwas zu sagen.

„Oh, ja.“ Sie blickte um sich. Er war sicher, dass sie sogar im Dämmerlicht die Stockflecken am Fensterrahmen und all die anderen kleinen Zeichen der Vernachlässigung ausmachen konnte. Ihr nächster Satz schien dies zu bestätigen. „Jetzt führen Sie wieder ein Junggesellenleben?“ Eine Frage sollte das wohl sein, vermutete er. An ihm wäre es nun zu antworten. Noch ehe er den Mund öffnen konnte, sprach sie weiter. „Ich fühle mich auch wie ein Junggeselle in meiner Wohnung. Aber so nennt man das auch gar nicht mehr, nicht wahr? Wir sind Singles, Herr Hinrichs.“

Er nickte, fassungslos, wie dreist sie ein Wort, das für junge Leute erfunden worden war, auf sie beide anzuwenden wagte. Nun stellte sie die Kunststoffdose auf den Küchentisch, was er als Zeichen wertete, Teewasser aufzusetzen. Kaffeekochen war eine Kunst, die er nie zufriedenstellend gemeistert hatte. Aus diesem Grunde scheute er auch die modernen Kaffeemaschinen. Er traute ihnen nicht zu, trotz seiner Inkompetenz trinkbaren Kaffee herzustellen. Aber Tee traute er sich zu. Tee war zudem ein regionales Getränk. Klara Prüm würde es aus diesem Grunde möglicherweise sogar schätzen. Dennoch fragte er vorsichtshalber:

„Sie trinken Ostfriesentee? Das ist ein schwarzer Tee.“ Wäre dem nicht so, stünde er vor einem echten Problem, denn Kräutertee passte auch in seiner Denkwelt nicht zu Kuchen.

Sie drehte sich vom Fenster, von dem aus sie die Obstbäume betrachtet hatte, halb zu ihm um.

„Gerne. Bei meiner Tochter gibt es auch keinen Kaffee.“

„Das kommt wohl von den Jahren in Oldenburg“, stammelte er. Sie trat neben ihn.

„Nein, das glaube ich nicht. Das kommt vom Ehemann. Wo haben Sie Teller? Dann könnte ich den Kuchen auspacken.“

Dass der Kuchen verzehrt werden müsste, hatte er verdrängt. Rüdiger Hinrichs reichte ihr Teller und Tassen, fand dann eher zufällig etwas, das als Kuchenplatte geeignet schien. Frau Klara Prüm deckte in seinem Rücken den Tisch ein. Als er Löffel und Kuchengabeln auf den Tisch legte, stellte er schockiert fest, dass sie bunte Papierservietten mitgebracht hatte. Der Tisch sah nun anders aus, farbiger auf jeden Fall, und mit Sicherheit weckte der Anblick schwache Erinnerungen an die Kaffeetische seiner Jugend, als Mutter und Schwester das Eindecken oblegen hatte. Sie hatte wohl seine Verstörung bemerkt.

„Ich habe mir die Freiheit genommen, Servietten mitzubringen. Männliche Junggesellen verfügen meist nicht darüber.“

„Nein. Dieser Junggeselle jedenfalls nicht.“

Sie setzten sich und probierten jeweils den Beitrag des anderen zu dieser Mahlzeit. Dann lächelten sie sich an.

„Wohnen Sie schon lange in diesem Haus?“ begann Frau Klara Prüm die Konversation.

„Etwa zwanzig Jahre. Wir sind kurz nach der Heirat eingezogen.“

„Ach, Sie haben aber spät geheiratet. Wahrscheinlich war es nicht Ihre erste Ehe.“

Rüdiger Hinrichs, der sich noch nicht verziehen hatte, seine Ehe mit Violetta überhaupt erwähnt zu haben, trank vorsichtig etwas heißen Tee. Prompt verbrannte er sich die Zungenspitze. Das wertete er als Warnung vor zu viel Vertrauensseligkeit, denn wieder schien ihn dieses leichte Gefühl zu überfallen, welches er schon in Klara Prüms Wohnzimmer empfunden hatte. Etwas wog ihn in Sicherheit, etwas schien stillschweigend seine Verteidigungswälle zu durchdringen und zu unterspülen. Es war erschreckend, wie leicht es war, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Das musste das Alter sein oder aber vollkommen unangebrachte Nostalgie. Deshalb antwortete er nach kurzem Zögern:

„Ich war vorher nicht verheiratet. Hatte sich nie ergeben. Bei ihr weiß ich es ehrlich gesagt nicht. Ich bin davon ausgegangen, dass sie auch noch nie verheiratet war.“ Die Antwort klang auch in Rüdiger Hinrichs Ohren seltsam. Er erwartete Verwunderung, so wie er nun selbst verwundert war und sich doch bestätigen musste, dass er über Violettas Vergangenheit nur lückenhafte Informationen besaß. Das Erbe, aus dessen Mitteln sie dieses Haus gekauft hatte, bot dafür ein erstklassiges Beispiel.

Klara Prüm dagegen nippte in aller Seelenruhe an ihrem Tee.

„Geheimnisse“, murmelte sie, dann strahlte sie ihn an. „Ist es nicht beruhigend, dass es in diesen Zeiten noch Geheimnisse gibt? Mir tut ja meine Enkelin leid. Die jungen Leute haben doch keine Geheimnisse mehr. Alles ist öffentlich. Sie zeigen sich ihre Briefe auf dem Handy, telephonieren überall in der Stadt vor aller Ohren. Aber wir kennen das noch. Dieses köstliche Gefühl, ein Geheimnis zu hüten. Ein süßes Geheimnis vielleicht. Oder ein schauriges.“

Er nickte gedankenvoll, wenn auch mehr wegen seiner eigenen Empfindung, vor ihm habe sich kurz ein Tor geöffnet. Es stand immer noch offen, und hinter seinen schweren Flügeln lockte es verheißungsvoll. Er riss sich zusammen und versetzte den Torflügeln einen Stoß, dass sie lautlos zufielen. Vertraulichkeiten musste man überwachen, erinnerte er sich und verstieß im nächsten Moment schon wieder gegen seinen Vorsatz.

„Manchmal ist die Gegenwart so reizvoll, dass die Vergangenheit keine Rolle spielt.“

„Und es gibt Überraschungen?“ fragte sie.

Misstrauisch sah er sie an.

„Ja, die könnte es geben.“

Sie nickte, während sie ihm ungefragt ein weiteres Stück Pflaumenkuchen auftat. Rüdiger Hinrichs räusperte sich.

„Frau Prüm, Ihr Kuchen ist ausgezeichnet.“ Das war aufrichtig gemeint, was sie ihm anscheinend ansah.

„Danke schön.“ Er strauchelte unter den widerstreitenden Stimmen in seinem Hinterkopf.

„So köstlichen Kuchen habe ich lange nicht gegessen.“ Sie errötete unter ihrem Make-up.

„Und ich habe schon lange nicht mehr so ein nettes Lob bekommen.“

Es blieb ihm nur, die Teekanne zu heben, um ihr nachzuschenken. Dabei machte er sich Vorwürfe, überhaupt etwas gesagt zu haben. Klara Prüm schwieg nun ebenfalls. Zu viele Nettigkeiten in zu kurzer Zeit mussten das Gespräch abwürgen, sagte er sich, während er halb panisch nach weiteren Themen suchte. Doch es fiel ihm nichts ein, er war zu ungeübt im Sprechen, noch dazu mit einer Dame.

Nachdem Kuchen und Tee verzehrt waren, schlug er ihr vor, den Rest des Hauses und den Garten zu besichtigen. Dieses Angebot nahm sie selbstverständlich an. Er stieg vor ihr die schmale Treppe hinauf. Es beschäftigte ihn eine Weile die Frage, wie er sich auf eine derartige Offenbarung seiner Lebensumstände hatte einlassen können. Schließlich kam er ein wenig zur Ruhe. Im Herumgehen unterhielten sie sich über Heizungen und steigende Gaspreise und die Geldgier, die die Welt in diesen Zeiten regierte. Ihre Meinungen zu diesen Fragen stimmten weitgehend überein. Als er Frau Klara Prüm an die vom Efeu abgeschatteten Fenster der oberen Etage führte, erkannte Rüdiger Hinrichs, dass es an sich nichts im Hause zu verbergen gab. Er wandte sich dem Raum, in dem sie sich aufhielten, zu. Alles war einigermaßen sauber gehalten, darum bemühte er sich redlich. Tatsächlich bedeutete die Reinigung wenig Aufwand, da er die oberen Räume kaum nutzte. Außerdem war das Haus klein, gerade ausreichend für zwei Personen, völlig ausreichend für einen alleinstehenden Mann. So sprach es auch Klara Prüm aus. Er war etwas irritiert, seine Gedanken von ihr in Worte gefasst zu hören. Aber ihre Worte erschienen ihm zugleich andeutungsweise als Entschuldigung, dass eben nicht alles in erstklassigem Zustand war. Darüber sollte er sich nicht beschweren, und er tat es auch nicht.

Vom Haus gingen sie in den Garten. Dort gab es wenig zu sehen. Rüdiger Hinrichs gärtnerte nicht, Bäume und Hecke verwehrten die Sicht auf die Nachbargrundstücke, wo sich eine Pferdeweide, ein Maisfeld und eine Wiese befanden. Auf der Wiese gediehen Gras und, spähte man durch die Hecke, offensichtlich auch Maulwürfe. Dass jene Maulwürfe nicht in diesen Garten kamen, hatte Violetta auf die Kobolde zurückführen wollen, Rüdiger Hinrichs glaubte dagegen nach wie vor, hinter der Brombeerhecke verlaufe ein verborgener Graben, den sie nicht überwinden konnten. Das alles berichtete er Klara Prüm, derweil seine Ohren nur verwundert über das Gehörte brausten. Sogar den Erklärungsversuch mit den Kobolden teilte er ihr mit.

Sie hörte das alles mit Interesse an, nicht einmal die Kobolde verwunderten sie.

„Kobolde sind auch eine Erklärung“, meinte sie nur und setzte schelmisch hinzu „Wer weiß?“

Rüdiger Hinrichs drehte sich beinahe erschrocken zu ihr um. Er hätte nicht zu sagen gewusst, weshalb dieser Zusatz ihn so verstörte, doch er hörte ihn nur ungern aus ihrem Mund.

„Meinen Sie das im Ernst?“ wollte er wissen. Zu seiner Erleichterung lachte sie auf.

„Nein, um Gottes willen. Kobolde und Geister sind nicht mein Fall. Wirklich nicht.“

Sie wanderten zwischen den Obstbäumen, wo es von Wespen wimmelte. Im knöchelhohen Gras lagen herabgefallene Äpfel, Birnen und Pflaumen. Tausende Insekten krabbelten darüber oder schwirrten unter den unbeschnittenen Zweigen.

„Das erinnert mich an meine Jugend. Wir hatten auch einen Obstgarten. Auch Bienen.“

Sie sagte nicht, wo der Obstgarten gelegen hatte, aber vielleicht hielt sie es für selbstverständlich, dass es irgendwo in der Eifel gewesen wäre. Rüdiger Hinrichs fragte nicht nach. Er wollte sich nicht lächerlich machen. In seiner Jugend hatte es auch so einen Garten gegeben, ohne Bienen, und er erwähnte ebenfalls den Garten, unterließ es jedoch genau wie sie, den Ort zu nennen. Sie sollte annehmen, er stammte aus dieser Region. Vermutlich glaubte sie das auch tatsächlich, denn sie fragte nicht weiter.

Er dachte an die Photos an ihrer Wohnzimmerwand, mit denen sie für Besucher ihr Leben zu dokumentieren schien. Es gab da ein Hochzeitsbild, eine Studioaufnahme des Brautpaares, das erste Bild in einer langen Reihe, als ob mit der Eheschließung das Leben der Klara Prüm erst begonnen hätte. Aber in jenen Jahren hatte nicht jeder einen Photoapparat besessen, oder es existierten vielleicht keine attraktiven Photographien aus der Zeit vor der Heirat. Diese Bilddokumente, so es sie tatsächlich gäbe, lagerten wahrscheinlich in Photoalben, alle schwarzweiß, keines in Farbe. Er selbst besaß so etwas nicht, andere Leute hielten es für normal. So weit war er über die Gewohnheiten der bürgerlichen Welt informiert. Andere Leute hatten Wurzeln, die sie hingebungsvoll pflegten.

Er pflückte einen Apfel, rieb ihn kurz an seinem Ärmel ab und überreichte ihn ihr mit einer leichten Verbeugung. Dabei errötete er ebenso wie sie.

„Das ist aber nett. Danke schön.“ Während sie den Apfel aß, schlenderten sie weiter unter den Bäumen. Es hätte ihn nicht überrascht, hätte sie seinen Arm genommen. Stattdessen driftete sie zur Seite und blickte hinauf in die knorrigen Zweige. „Zu der Zeit, als wir unser Haus in Kalterherberg gebaut haben, wollte man von Nutzgärten nichts wissen. Ich hatte vorher in Köln gewohnt, und irgendwie hatte ich in der Großstadt die Möglichkeit eines Gartens völlig verdrängt. Mein Mann sagte: ‚Wir sind doch modern. Wozu brauchen wir einen Nutzgarten?‘ Und meine Schwiegermutter, bei der wir erst noch gewohnt haben, sagte auch nur: ‚Kind, sei froh, dass du mit dem Obst und Gemüse nichts zu tun hast.‘ So war das damals. Jetzt hat meine Tochter sogar bei ihrem Oldenburger Haus Obstbäume. Die Zeiten ändern sich, nicht wahr?“

Rüdiger Hinrichs fühlte sich nicht kompetent, über die veränderte Einstellung normaler Leute zu Nutzgärten zu diskutieren. In den Kreisen, in denen er sich herumgetrieben hatte, zogen viele Menschen eigenes Gemüse. Teilweise taten sie dies aufgrund ihrer Lebensphilosophie, viele sahen sich aus wirtschaftlichen Gründen dazu gezwungen. Er selbst leistete sich zwar den Luxus, keinen eigenen Nutzgarten zu bewirtschaften, war sich aber bewusst, dass er von den Mühen anderer profitierte, wenn sie ihm wie die Bewohner des Pferdehofes Teile ihrer Ernte überließen.

„Ich kann das nicht beurteilen“, gab er zu. Sie nickte. Das beunruhigte ihn. Ihr Nicken erschien ihm als Bestätigung einer vorgefassten Meinung, der Annahme, er sei seltsam und unwissend, im Fazit kein wünschenswerter Umgang. „Die Leute, mit denen ich gelebt habe, hatten immer irgendwo so einen Garten“, rechtfertigte er sich. Wieder nickte Klara Prüm.

„Letztlich spart es keine Arbeit, und man zahlt drauf, wenn man einen Ziergarten hat“, stellte sie fest. Sie hatte den Apfel verzehrt und hielt nun das Kerngehäuse am Stiel.

„Einfach über die Hecke“, riet er ihr. In hohem Bogen flog das Kerngehäuse über die Holunderbüsche.

„Wo landet es jetzt?“ erkundigte sie sich.

„Im Maisfeld“, gab er zur Antwort. „Davon gibt es jetzt auch immer mehr.“ Auch darauf nickte sie zustimmend.

Sie setzten sich mit frischem Tee auf die Stufen vor der Haustür. Es war ihre Idee gewesen, und Rüdiger Hinrichs konnte nur noch schnell eine alte Decke ausbreiten. Wie er trug sie Jeans in einem verwaschenen Mittelblau, doch ihre waren von einer ihm unbekannten Marke und in dieser Farbe gekauft. Auch ihre Schuhe waren neu, sportlich und teuer. Lieber hätte er sie in einem Kleid gesehen, so wie an den beiden Markttagen. Aber natürlich war sie keine Oldenburgerin, sie fuhr in sportlicher Kleidung auf dem Fahrrad, nicht im Kleid, vermutlich auch nicht mit aufgespanntem Regenschirm bei Sturm, wahrscheinlich niemals Hand in Hand mit einem anderen Radfahrer. Außer gebürtigen Oldenburgern täte das niemand, mutmaßte er, und Menschen ihres Alters machten so etwas erst recht nicht mehr.

Er musterte Klara Prüm von der Seite. Die verstorbene Violetta war eine etwas ramponierte Fee gewesen, mit einer Wolke metallischgrauer Haare und verwaschenen blauen Augen in einem sonnenverbrannten Gesicht. Sie war ihm auf ihre Art attraktiv erschienen, auch noch, als er schon ernsthafte Zweifel an ihren Koboldgeschichten hegte. Ähnlichkeiten zwischen den beiden Frauen existierten nicht. Bei Violetta war nichts klar definiert gewesen. Geschichten von Elfen und Kobolden hatten zu ihr gepasst. Tatsächlich hatte er ihr jedes Wort geglaubt, trotz des Bewusstseins darüber, wie gering ihre Worte auf der Goldwaage wögen. Im Unterschied zu Violetta vermittelte Klara Prüm den Eindruck von Nüchternheit. Er wusste nicht, an wen aus seiner Vergangenheit sie ihn erinnerte, an seine Mutter vielleicht, was jedoch kein sehr schmeichelhafter Vergleich gewesen wäre. Mit Schmeicheln käme man bei ihr allerdings nicht an.

Das sah er, und obwohl sich erneut diese Unruhe meldete, gefiel es ihm. Weshalb es ihm aber gefallen sollte, wenn eine Frau kurz vor ihrem siebzigsten Geburtstag immun gegen schöne Worte wäre, wusste er nicht zu sagen. Frühere Möglichkeiten schlossen sich selbstverständlich aus. Romantik gehörte in das Leben junger Menschen, die fest in einem richtigen Leben standen, nicht in seines. Die Frage nach Emotion oder gar Zärtlichkeit stellte sich seit Jahrzehnten nicht mehr. Nicht zuletzt hatte diese Frage nie etwas mit Violetta zu tun gehabt, so bedauerlich das zuzugeben auch war. Mit Klara Prüm schien die Frage etwas zu tun zu haben, obwohl er zugeben musste, dass die Dame in Designerjeans neben ihm auf der Treppenstufe wenig gefühlsbestimmt wirkte. Diese Erkenntnis wiederum erleichterte ihn ungemein.

Er hatte sich manchmal in schwachen Augenblicken gefragt, ob es ihm möglich gewesen wäre, in einem richtigen Leben mit einer Frau zu leben und eine normale Familie zu gründen. Als ihm alles noch so einfach erschienen war, hatte er so ein Leben als Selbstverständlichkeit angesehen. Später waren seine Gedanken zwangsläufig zu sehr auf seine Person konzentriert gewesen. Rüdiger Hinrichs hatte immer gewusst, dass es keine Verpflichtung gab zu handeln, wie er gehandelt hatte. Doch die andere Möglichkeit, die Alternative zum Untertauchen, hatte sich ihm nie so klar dargestellt, als dass er sich ernsthaft mit ihr befasst hätte. So blieb diese unbeantwortete Frage nach Ehe und Familie, und so blieb auch die bestürzende Erkenntnis, dass er sich vor über vierzig Jahren durchaus in Frau Klara Prüm hätte verlieben können. Darüber jetzt nachzudenken, verbot sich jedoch, also bemühte er sich, es zu unterlassen.

Seine Besucherin fuhr bald darauf zurück in ihre seniorengerechte Wohnung, wie sie sich ausdrückte. Bis zur Wardenburger Straße hatte sie ihr Fahrrad geschoben. Er hatte sie begleitet und fürsorglich darauf hingewiesen, dass der Radweg in beide Richtungen führte, sie also nicht die an dieser Stelle durch Bäume abgedunkelte Straße überqueren müsse. So fuhr sie davon, den Blick konzentriert nach vorne gerichtet. Rüdiger Hinrichs wanderte über seine lange Auffahrt zurück zum Haus. Was er nun tun sollte, wie er den Rest des Tages zubringen könnte, nachdem er einige Stunden mit ihr verbracht hatte, stellte ihn vor ein Rätsel. Zunächst erledigte er offensichtliche Aufgaben, verstaute die Decke und stellte das benutzte Geschirr in das Spülbecken. Dann jedoch schwang er sich auf sein Fahrrad und radelte los über die abendlichen Feldwege. Frühe Eicheln fielen von den Bäumen, in den Gärten reiften die Kürbisse orange heran. Der Sommer unternahm einen letzten Aufstand gegen den Herbst. Doch unter die Dahlien mischten sich erste Astern und Chrysanthemen, und der schwere Duft beladener Obstbäume wehte über die Wege wie in seinem eigenen Garten.

(...)

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