Wieken-Verlag Autorenservice Sandras Schatten. Morde zwischen Geest und Meer – Martina Sevecke-Pohlen

Sandras Schatten. Morde zwischen Geest und Meer – Martina Sevecke-Pohlen

Titel: Sandras Schatten
Reihe: Christa Hemmen norddeutsche Krimis #2
Verlag: Wieken-Verlag
erschienen: 2012
Autor: Martina Sevecke-Pohlen
Genre: , ,
ISBN13: E-Book EPUB 978-3-943621-02-0, E-Book Kindle 978-3-943621-00-6, gedrucktes Buch Buchhandel 978-3-943621-29-7, gedrucktes Buch Amazon 978-3-943621-08-2

Was tun Sie, wenn Sie der Angst in die Augen sehen?

Sandra ist nicht von dieser Welt. So erscheint es Christa Hemmen, wann immer sie ihrer Vermieterin begegnet. Sandra bedrängt Christa mit Warnungen. Doch die junge Frau schlägt alle wohlgemeinten Ratschläge in den Wind. Als sie erfährt, dass auch die Polizei Sandras Anrufe nicht ernst nimmt, fühlt sie sich bestätigt.
Sandra hat Angst, vielleicht ist sie verrückt. Anders kann Christa sich die Warnungen ihrer Vermieterin nicht erklären. Schließlich leben sie in Wardenburg, einer idyllischen Gemeinde in Norddeutschland, wo keine Frau verfolgt wird. Doch nachts hört auch Christa unheimliche Geräusche aus dem Garten. Auf der Terrasse findet sie den bestialisch zugerichteten Körper eines Welpen. Und ein Schatten flieht durch die Hecke. Christa begreift, dass Sandra Opfer von Stalking ist. Als Sandra am hellen Tage angefahren wird, muss Christa befürchten, dass hinter der Fahrerflucht mehr steckt. Sandras ist Leben in Gefahr. Aber niemand nimmt die Bedrohung ernst. Außer Christa.
Was kann sie tun? Will Sandra keine Hilfe?
Für Sandra ist das Thema Stalking weiterhin ein Tabu. Sie behauptet nicht zu wissen, wer sie verfolgt. Christa beschließt zu handeln. Angetrieben von ihren eigenen traumatischen Erfahrungen macht sie sich auf die Suche nach Sandras Schatten. Kann sie ein Geheimnis lüften, das weit in Sandras Familiengeschichte zurückreicht?

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In der Reihe erschienen auch:

1. KAPITEL

 

Weiß ragt der Arm hinter dem Kotflügel hervor. Regentropfen perlen über eine elfenbeinfeine
Hand, Knöchel vom Aufprall verschrammt, Nägel abgerissen. Nasser Asphalt reflektiert
Scheinwerferlicht. Wegen der dunklen Lackierung ist die schlanke Linie einer
Limousine gerade noch auszumachen. Im Dämmerlicht erscheint das Fahrzeug
substanzlos, als verfüge ein Zusammenprall mit ihm unmöglich über ausreichend
Wucht Schaden zu verursachen.

Der Motor ist verstummt. Regen klopft stetig auf das Blech, über die Windschutzscheibe
kratzen noch immer rhythmisch die Scheibenwischer. Jenseits des Fahrzeugs
klingt ein schwacher Laut, kaum wahrzunehmen hinter dem Klopfen. Starre Blicke
verfolgen die Spur des Blutes, das der Regen vom Stoßfänger auf den rauen
Straßenbelag wäscht, wo sich die roten Schlieren verlieren.

Die Fahrertür schlägt zu. Der Motor wird wieder angelassen.

*

Zeit ist vergangen. Im Dunkeln verlässt die junge Frau ein Haus. Auf den ersten Blick
fühlt man sich an eine Szene aus einer jener Fernsehsendungen erinnert, in
denen den Zuschauern Inszenierungen tatsächlich geschehener Verbrechen
dargeboten werden. Man sieht die junge Frau durch den Regen zu ihrem Auto laufen.
Es ist ein Sonnabend im Juni zu fortgeschrittener Stunde.

Wäre dies wirklich eine Filmszene, erhielte man vom Kommentator den Hinweis, der Abend
liege über zwanzig Jahre zurück. Es ist 22.45 Uhr.

*

Wenn es für Leute mit meinem Problem Selbsthilfegruppen gäbe, könnte ich mir sehr gut
vorstellen, wie mein erster Auftritt dort verliefe. Erst säße ich still dabei,
während andere sich vorstellten und über Fortschritte oder Rückfälle
berichteten. Fragte man schließlich nach neuen Besuchern, stünde ich auf. Ich
sähe in die Runde und sagte dann den Spruch, den ich zuvor tagelang vor dem
Badezimmerspiegel geübt hätte:

„Ich heiße Christa Hemmen, und in meinem Kleiderschrank wachsen frisch gebügelte weiße
Hemdblusen.“

Niemand würde lachen. Einige Anwesende würden lediglich mitfühlend nicken, andere
verständnisvoll lächeln. Von allen zusammen käme „Hallo, Christa“ in lautem
Chor, während ich ermattet auf meinen Stuhl zurücksänke, triumphierend jedoch
auch, denn ich hätte es endlich ausgesprochen.

Es ist tatsächlich so und es ist mir sehr peinlich. In meinem Kleiderschrank wachsen
weiße Hemdblusen, nicht im biologischen Sinne natürlich, aber ich habe offenbar
keinen Einfluss auf das, was in meinem Schrank geschieht. Als Schülerin deutete
sich das Problem zwar an, aber niemand, auch ich nicht, nahm die Anzeichen
ernst.

Im Zweifel konnte ich die Schuld an den gebügelten Hemdblusen, damals waren sie noch nicht
weiß, meiner Mutter zuschieben. Eine aktive Hauswirtschaftsleiterin als Mutter
bietet sich für solche Schuldzuweisungen an, und ich habe das Angebot ausgiebig
genutzt. Aber schon meine Studentenzeit war von der Befürchtung geprägt,
Besucher meines WGZimmers würden unbeobachtet meinen Schrank öffnen und die, zu
diesem Zeitpunkt bereits weißen Blusen entdecken.

Es ist ein merkwürdiges Phänomen. Nach einem Einkaufsbummel, sogar nach dem Shoppen, frage
ich mich wieder und wieder, wo die neuen weißen Hemdblusen herstammen. Ich
fürchte, wagte ich mich in den coolsten SzeneLaden, verwandelte sich das Teil
im aktuellsten Look und in der angesagtesten Farbe nach dem Bezahlen noch in
der Plastiktüte zu einer weißen Hemdbluse.

Wie viele Leute mit einem Problem habe ich mich im Laufe der Jahre damit arrangiert. Manchmal
wage ich die Hoffnung, dies sei der erste Schritt zur Heilung. Nachdem ich
nicht mehr lediglich Studentin, nicht einmal mehr nur Absolventin bin, fühle
ich mich in dieser Hinsicht recht optimistisch. Allerdings sehe ich weitere
Probleme vor mir. Mein neuer Arbeitsplatz in Wardenburg ist exakt zwei Komma
sieben acht Kilometer von meinem Elternhaus entfernt.

*

Um 22.55 Uhr fährt die junge Frau auf der Landstraße von Wardenburg Richtung Ahlhorn. Nur
wenige Autos sind unterwegs. Es regnet noch immer, sie fährt der Witterung
angemessen. Man sagt von ihr, sie sei eine umsichtige Fahrerin. Doch an diesem
Abend steht sie unter Zeitdruck, denn um 23.30 Uhr soll sie ihren Freund in
Ahlhorn abholen.

Der Regen wird gegen 23.05 Uhr dichter. Sie verlangsamt ihr Tempo. Da fällt ihr am Straßenrand
ein Mann auf. Normalerweise würde sie keinen Fremden mitnehmen, doch für diesen
hält sie an. Über ihre Gründe kann man nur spekulieren. Um 23.10 Uhr setzt sie
in Begleitung des Fremden die Fahrt fort.

*

Es ist meine erste eigene Wohnung. Natürlich habe ich als Studentin nicht zu Hause gewohnt,
achthundert Kilometer Distanz zur Universität erlauben das nicht, aber ein
Zimmer in einer Wohngemeinschaft ist nur bedingt ein eigenes Reich. Während
meines ersten Jobs habe ich das Zimmer beibehalten. Es passte zu dem Job und
der Abfolge befristeter Maßnahmen. Jetzt aber ziehe ich in eine eigene Wohnung.

Im Gegensatz zu meiner neuen Arbeitsstelle habe ich die Wohnung selbst gefunden. Die
Arbeitsstelle hat meine Mutter entdeckt und mich zum Bewerben genötigt. Dass
ich die Stelle sogar bekommen habe, mache ich ihr nicht zum Vorwurf, aber es
wurmt mich doch, es könnte eventuell der Eindruck entstanden sein, meine Mutter
regelte mein Leben.

Die leidigen weißen Hemdblusen kommen mir jetzt gelegen. Als ich letzte Woche meine Stelle
angetreten habe, begrüßte mich Frau von Geldern freundlich. Sie ist die
Geschäftsführerin von „Crea. Heim und Pflege“ in Wardenburg.

Alles an ihr ist groß. Sie hat einen langen Oberkörper und große Hände. Sie hat auch
ziemlich lange Beine, aber aus irgendeinem Grunde erinnern sie mehr an Säulen,
vielleicht weil man keine Konturen an den Waden oder Knöcheln sieht. Die Beine
gehen gerade vom Rocksaum hinab zu den großen Füßen, die in entsprechend großen
Schuhen ohne nennenswerten Absatz stecken. Das sieht standfest aus.
Standfestigkeit ist unentbehrlich für Geschäftsführerinnen.

Farblich sind die Schuhe immer auf den Rock abgestimmt. In den zehn Arbeitstagen, die ich bisher
mit Frau von Geldern verbracht habe, hat sie keinen Rock zweimal getragen, aber
vom Schnitt her ähneln sie sich alle. Immer sind es Faltenröcke in gedeckten
Farben, zu denen sie stets eine frisch gebügelte Hemdbluse trägt, mit
Perlenkette, denn sie ist die Geschäftsführerin. Ihr Kopf ist das einzige an
ihr, was man als klein bezeichnen könnte. Augen, Nase, Mund und Ohren finden
kaum genügend Platz daran, so dass die erschreckend krause Dauerwelle an der
Stirn bis über die Brillengläser fällt.

Auch wenn es diese Beschreibung nicht vermuten lässt, finde ich Frau von Geldern
sympathisch. Sie hat Verständnis für mein Problem, hält es sogar für einen
Vorteil. Nachdem sie mich am Montag vor einer Woche durch die Geschäftsräume
geführt und mir dann meinen Schreibtisch gezeigt hatte, schenkte sie mir eine
Tasse Tee ein.

„Ich bin sicher, wir werden gut miteinander auskommen“, teilte sie mir mit, indem sie
mir die Tasse reichte.

„Schon als ich Ihr Bewerbungsfoto gesehen habe, Frau Hemmen, wusste ich, dass Sie zu uns
passen werden. Sie haben so eine seriöse Ausstrahlung.“

Ich dankte ihr für den Tee und das Kompliment. Letzteres war für mich eine große Beruhigung.
Trotzdem braucht niemand davon zu erfahren, schon gar nicht meine jüngere
Schwester Heidi.

Heidi gehört nämlich nicht zu den Menschen, in deren Kleiderschränken weiße Hemdblusen
wachsen. Sie hat den Schick einer Frau aus der Waschmittelwerbung, keine glänzende
Stirn, die langen Haare in einem Naturton, den sich andere teuer erfärben
müssen, und immer adrett gekleidet. In den letzten Wochen trägt sie
auffälligere Farben und Schnitte. Auch ihre Bemerkungen zu meiner Garderobe
sind eine Spur bissiger geworden. Ich weiß, dass ich als Akademikerin und
ältere Schwester über Heidis Kommentaren stehen sollte. Es gelingt mir nur
nicht immer.

*

Um 23.14 zieht der Anhalter ein Messer und verlangt von der jungen Frau, sie solle in den
nächsten Feldweg abbiegen. Stattdessen beschleunigt sie. Vor sich sieht sie die
Rücklichter eines Wagens. Sie schlägt auf den Schalter der Warnblinkanlage und
überholt hupend. Das überholte Fahrzeug bremst und gerät von der Fahrbahn. Ein
weiteres Fahrzeug nähert sich der jungen Frau nun von vorne. Bei einem
Ausweichversuch kommt ihr Wagen ins Schleudern. Auch der Fahrer des entgegenkommenden
Autos bremst und rutscht auf der regennassen Fahrbahn in das Auto im Graben.

Währenddessen prallt die junge Frau gegen einen Baum. Sie selbst wird vor dem Lenkrad
eingeklemmt. Dem Anhalter gelingt es jedoch, die Beifahrertür zu öffnen. „Ich kriege
dich noch“, sind seine Abschiedsworte, ehe er zwischen den Bäumen in den Wald
verschwindet. Das Messer hat er mitgenommen, schließlich ist es sein Eigentum.
Die Uhr zeigt 23.19 an.

*

„Was haben Sie am Wochenende vor?“ fragte mich Frau von Geldern gestern Nachmittag, als ich in
der Teeküche die Spülmaschine ausräumte.

Diese Tätigkeit scheint entweder zu meinem oder zu Simones Arbeitsbereich zu gehören. Simone
ist die Bürofachkraft. Frau von Geldern hielt ihren Teebecher etwas unbeholfen
in der Hand. Sie war sich bewusst, den letzten Aufruf Simones, Becher und
Teller in die Spülmaschine zu räumen, überhört zu haben. Routiniert sortierte
ich das Besteck in den Schubladeneinsatz. Mir war in diesem Moment, als hätte
ich nie etwas Anderes getan. „Ich ziehe in meine neue Wohnung“, teilte ich ihr
mit.

Für mich war das ein wichtiger Schritt, nicht nur, weil es sich um meine erste eigene
Wohnung handelte. Seit vier Wochen wohnte ich bei meinen Eltern in meinem alten
Zimmer im stillen Tal, der Straße meiner Kindheit. Dieser Zustand musste
verändert werden. Noch vertrug ich mich mit meiner Mutter, aber es hatten sich
wieder alte Verhaltensweisen eingeschlichen.

Beispielsweise wusch sie meine Wäsche. Dagegen hatte ich nichts einzuwenden, wohl aber ärgerte
es mich, dass sie in meiner Abwesenheit in mein Zimmer ging, an meinen Blusen
roch und entschied, ob sie gewaschen werden mussten, und auch sorgfältig die
Taschen meiner Hosen ausleerte, ehe sie sie in die Waschmaschine beförderte.
Das war entwürdigend und wurde keineswegs besser, wenn meine Mutter ein
gelassenes „Aber immerhin sind deine Sachen jetzt wieder sauber“ an ihre
Entschuldigung anhängte.

Frau von Geldern stellte eilig ihren Becher in die ausgeräumte Spülmaschine.

„Oh, das wird dann ja ein arbeitsreiches Wochenende, Frau Hemmen. Ist die Wohnung in
Wardenburg?“ Ich bestätigte beides und kämpfte den Impuls nieder, ihren Becher
herauszunehmen und von Hand zu spülen, ehe er in der feuchtwarmen Spülmaschine
bis zum Montag verschimmelte. Solche Impulse quälen wahrscheinlich jede Tochter
einer Hauswirtschaftsleiterin. Diesmal siegte meine Faulheit. Ich sammelte aber
die Geschirrhandtücher ein, die ich unbedingt zu Hause bei meiner Mutter
waschen wollte, und knipste das Licht in der Teeküche aus.

Frau von Geldern schlenderte hinter mir bis zu meiner Bürotür.

„Ich hoffe doch, Sie haben genügend Hilfskräfte für den Umzug.“

Ich beruhigte sie, fragte mich aber, weshalb sie das wissen wollte. Vielleicht hoffte sie auf
einen Hinweis, ob mein Freund mich unterstützen würde. Da ich keinen Freund
hatte, musste ich auf meinen Vater zurückgreifen. Das brauchte Frau von Geldern
jedoch nicht zu wissen.

Gemeinsam stiegen wir die Treppe zur Friedrichstraße hinunter. Durch das Schaufenster von
„Crea. Heim und Pflege“ sahen wir in das Büro des Pflegedienstes, wo eine in
den CreaFarben Beige, Grün und Blau uniformierte Frau die Stühle auf die
Schreibtische stellte. Frau von Geldern klopfte an die Scheibe und winkte. Die
Frau fuhr zusammen, sah, wer geklopft hatte, und winkte gequält zurück.

Nach einem letzten „Schönes Wochenende“ stieg Frau von Geldern in ihre silbergraue
Limousine. Ich ging weiter die Friedrichstraße entlang bis zu dem weißen
Wohnblock, der zu meiner Zeit als graues Gebäude die Postfiliale beherbergt
hatte. In den Jahren meiner Abwesenheit war die Post ausgezogen, und man hatte
das Haus modernisiert. Jetzt wohnte Heidi in einer der Wohnungen, Luftlinie
dreihundertfünfzig Meter zu ihrem Arbeitsplatz.

Diese Nähe ihrer Wohnung zu ihrem Schreibtisch in der Zentrale eines
Personaldienstleisters wurde meine Mutter nicht müde hervorzuheben.
Anstrengungen jeglicher Art waren von Heidi fernzuhalten, und so hatte sie für
sie diese Wohnung gefunden. Anders als ich wusste Heidi den Tatendrang unseres
Elternteils zu schätzen, zumindest äußerte sie nie den Vorwurf, sie könne die
Aufgaben, die ihr abgenommen wurden, selbst erledigen.

Mein Auto stand in Heidis Hof geparkt. Heidi hatte den Hausmeister, der ihr nichts abschlagen
konnte, über unsere Verabredung informiert. Im Hof hinter „Crea. Heim und
Pflege“ war kaum Platz, weil die Wagen des Pflegedienstes sich dort beinahe
stapelten. Die fünfzig Meter bis zu Heidis Hof konnte ich leicht bewältigen.

Automatisch sah ich an der Fassade hoch. In ihrem Badezimmer war ein Fenster gekippt, aber dies
war kein verlässlicher Hinweis darauf, ob sie sich in der Wohnung aufhielte.
Diese Wohnung lag so, dass weder von der Straße noch vom Dach her Eindringlinge
zu befürchten waren. Deshalb ließ Heidi alle Fenster auch in Abwesenheit
offenstehen.

Nach kurzem Zögern ging ich direkt zu meinem Auto. Die letzten zwei Tage war sie auf einer
Fortbildung gewesen. Auch wenn sie schon zurück sein sollte, konnte ich an diesem
Nachmittag auf Heidis entspannte Kritik verzichten. Lieber wollte ich meine
restlichen Sachen packen.

Als ich in das stille Tal kam, herrschte dort Freitagnachmittagsruhe. Kinder wohnten derzeit
nicht in der Straße, die südlich vom Abzweig Wikingerstraße von der Oldenburger
Straße abging und nach einer Haarnadelkurve wieder darauf zurückführte. Einige
Leute arbeiteten in ihren Rabatten.

Der Garten von Frerk Deepken war zugewuchert. Seine Brombeerhecke bedeckte mittlerweile fast
alles, woran sie sich hochranken konnte. Alle paar Monate kam Frerks Sohn, um
den Vater in der Justizvollzugsanstalt, wo er wegen der Brandstiftung am
Bergerschen Haus einsaß, zu besuchen. Dann mähte er auch den Rasen am Haus.
Meistens blieb er nur eine Nacht. Die Nachbarn ließen ihn in Ruhe. Es war allen
unangenehm, einen Brandstifter in ihrer Mitte gehabt zu haben. Nun mieden sie
das Haus und den Sohn.

Wann immer ich Frerk Deepkens Haus sah, erfüllte mich Bitterkeit. Ich gab mir die Schuld, das
Feuer im Nachbarhaus nicht frühzeitig bemerkt zu haben, und fühlte mich mitverantwortlich
für den Tod von sechs Menschen. Rational war diesem Gefühl nicht zu begegnen.
Ich hatte es mit einer Ortsveränderung versucht, aber auch die Jahre meiner
Abwesenheit hatten die Eindrücke kaum gemildert.

Zumindest erinnerte im stillen Tal nichts mehr an das Bergersche Haus. Auf dem Grundstück
waren vier Einfamilienhäuser errichtet worden, in denen nun ein älteres Ehepaar,
eine alleinstehende Dame jenseits der Fünfzig, ein junger Mann mit sehr
schlanker Freundin, die beide nie da waren, und eine Frau mit ihren zwei
erwachsenen Söhnen wohnten. Von meinem Zimmer aus sah ich nicht mehr das
Reetdachhaus des alten Herrn Berger, auch nicht mehr die geschwärzten Mauern
seiner Ruine. Hellgelber Putz und blau lackierte Dachziegel, davor grüner
Rasen, Kirschlorbeer und Geranien lachten im Sonnenlicht zu mir herüber. Die
neuen Nachbarn passten gut ins stille Tal.

 

 

2. KAPITEL

 

Von den Feldern her zieht Nebel in die Gärten. Dumpf liegt die Herbstnacht auf feuchtem Laub.
Es raschelt in den schwarzen Stängeln der Astern, und ein Igel quert vom Beet
über das Gras zur Hecke. Irgendwo in den Bäumen schreit eine Eule.

In den Häusern ringsum sind alle Fenster dunkel. Nur wenige haben noch die Außenbeleuchtung
angeschaltet. An ein, zwei Stellen ist das Licht einer Straßenlaterne vorne an
der Straße zu sehen. Bewegungsmelder sind in diesen Jahren noch kaum
verbreitet. Man riecht überreifes Obst.

Etwas Größeres raschelt. Zweige neigen sich unter dem Gewicht ihres neuen Schmucks. An
Drahtschlingen hängen kleine Formen, dunkel und still wie übergroße Tannenzapfen,
aber ohne deren resinösen Duft. Die genaue Anzahl ist nicht zu erkennen. Man
muss wissen, wie viele davon in der glitschigen Plastiktasche steckten.

Wieder fällt Ruhe in den Garten. Nichts regt sich, auch als ein größerer Schatten hinter dem
Apfelbaum hervortritt. Nur ein schmatzendes Geräusch zeigt an, dass der
Schatten zu einem Körper gehört, der Spuren auf dem Fallobst hinterlassen wird.
Doch ansonsten fast geräuschlos überwindet jemand den Zaun. Kein Hund schlägt
an. In dieser Nachbarschaft hält man Katzen.

Der Schatten bewegt sich bis unter den Balkon. Ein Blumenkübel steht günstig platziert und
erleichtert den Aufstieg. Nur leise klingt das Metallgestänge der
Balkonbrüstung, als sich ein schwerer Körper darüber wuchtet. Danach ist alles
still. In der Ferne passiert ein spätes Auto die Landstraße.

Der Schatten hält inne, kommt zu Atem, reibt die Hände in den Lederhandschuhen, die etwas zu
knapp sitzen. Vorsichtig nimmt er den Rucksack vom Rücken. Aus der Vordertasche
holt er ein Werkzeug. Metall blitzt auf. Das Hauptfach wird nun geöffnet. Darin
regt sich etwas. Plastikfolie knistert, als eine Einkaufstasche
auseinandergezogen wird.

Dann greift der Schatten hinein und zieht etwas Kleines, Lebendiges heraus. Es zappelt und gibt
leise Laute von sich, doch die wird man im Haus nicht beachten. Zu viele ähnliche
Laute klingen durch den Nebel von Feldern und Hecken in den Garten. Der
Schatten hält das Wesen am ausgestreckten Arm, mit der anderen Hand werden
Einkaufstasche und Rucksack zusammengeschoben. Dann blitzt kurz das metallene
Werkzeug auf. Ein langgezogener Laut, ein krampfhaftes Zappeln folgen. Der
Schatten wartet, bis das Zappeln nachlässt, dann legt er das blutende Bündel
vor die verschlossene Balkontür.

Minuten später ist er im Nebel verschwunden. Bis zum Morgen ist das Blut getrocknet.

*

Vom Oldenburger Einrichtungshaus nach Wardenburg fuhren wir im Konvoi, sofern ein Konvoi aus
nur drei Autos bestehen kann. Hinten in meinem Wagen lagen Kartons dicht
gepackt. Der Innenraum roch nach Holz. Mein Vater fuhr mit dem Anhänger voraus,
dahinter folgte sein bester Kumpel in einem vollgestopften Kombi. Gefunden
hatte ich die Wohnung ohne meine Mutter, zum Möbeltransport brauchte ich aber
meinen Vater.

Am Ortsausgang Oldenburg in Kreyenbrück trennte uns das Rotlicht, aber wir hatten vereinbart,
dass wir in so einem Fall nicht auf die abgeschnittenen Autos warten wollten.
Das Gespann meines Vaters mit dem gemieteten Anhänger und Andy Vosgeraus Kombi
verließen die Stadt Richtung Tungeln, während ich an der Ampel hinterher sah.
Natürlich war das nicht tragisch. Ich kannte den Weg, und vor allem steckte der
Wohnungsschlüssel in meiner Tasche.

Das Haus meiner Eltern im stillen Tal liegt genau an der Kehre der Haarnadelkurve. Den Bogen,
den der Patenbergsweg beschreibt, könnte man allenfalls mit einer stark
verbogenen Haarnadel vergleichen, tatsächlich aber verlässt er die Oldenburger
Straße im Ortskern, führt an Kirche und Friedhof und weiter an älteren und
neueren Häusern vorbei, ehe er einen weiten Bogen vollführt und hinter dem Ortsschild
wieder auf die Oldenburger Straße trifft. Meine Wohnung lag im ersten Haus
hinter dem Bogen. Solche Wohnsituationen schienen mich anzuziehen. Ich glaube,
zur Zeit seiner Erbauung war es das letzte Gebäude an dieser Seite von
Wardenburg, denn die Häuser in der kleinen an dieser Stelle abgehenden Straße
Im Orthbruch sind alle jüngeren Datums.

Als ich das Haus erreichte, lehnte Andy neben dem heruntergelassenen Fenster meines Vaters.
Er winkte mir und schüttelte den Kopf zu meinem Vater, ehe er sich von dessen
Wagentür wegstemmte und auf mich zu schlenderte. „Wir dachten schon, du hättest
uns zur falschen Adresse geschickt, Christa“, grinste er, worauf ich nur den
Kopf schüttelte. Dann führte ich die beiden hinauf in die Wohnung, wo sie sich
gnädigerweise beeindruckt zeigten.

„So viel Platz brauchst du allein doch gar nicht“ stellte Andy fest. „Da kommt doch sicher
bald jemand mit rein, was? Vielleicht mit tränenverhangenen Augen aus
Süddeutschland?“

Ich schüttelte den Kopf, während mein Vater fragte, wieso jemand mit tränenverhangenen Augen
aus Süddeutschland kommend in diese Wohnung ziehen sollte. Andy lachte.

„Guck dir deine Tochter an, Jörn. Das Mädel sieht doch so aus, als hätte es da unten zahlreiche
Herzen gebrochen.“

Mein Vater musterte mich eher misstrauisch als skeptisch. Von Auszubildenden in dem
Restaurant, wo er als Koch arbeitete, wusste er, dass treuen Blicken nicht zu
trauen war, aber bei mir ging er von einem untadeligen Lebenswandel aus. Anders
als meine Mutter sehnte er sich nicht nach adretten Schwiegersöhnen. Ich war
seine große Christa, mit der er wichtige Dinge besprechen konnte. Schwiegersohnanwärter
störten dabei nur.

Ich dagegen seufzte betont laut, als hätte Andy etwas sehr Dummes gesagt, und verdrehte
demonstrativ die Augen. Damit war mein Vater beruhigt, und Andy, der natürlich
kein Wort ernst gemeint hatte, lachte schallend. Nachdem ich beiden versichert
hatte, die Wohnung sei für mich allein nicht zu groß, tatsächlich war sie zehn
Quadratmeter kleiner als Heidis, die ebenfalls allein lebte, schleppten wir die
Möbelteile nach oben.

Bis Sonntagnachmittag waren Wohn und Schlafzimmer aufgebaut, und in der Küche
hingen die Oberschränke ordentlich über den Unterschränken. Was fehlte, waren
die Elektrogeräte, die in den nächsten Tagen geliefert werden sollten. Einen
Telefonanschluss hatte ich auch noch nicht, der Antrag war in Bearbeitung, aber
eigentlich sah ich nicht ein, wozu ich einen Festnetzanschluss benötigte, wenn
ich ein Handy hatte. Meine Eltern hatten mich dazu gedrängt, und Andy hatte
gesagt, es wäre aus polizeilicher Sicht besser, was ich ihm weder glaubte noch
nachvollziehen konnte, mich aber endgültig nachgeben ließ.

Meine Mutter hatte die Wohnung einer Grundreinigung unterzogen. Als schließlich abzusehen
war, dass die Arbeiten vorläufig beendet wären, traf Heidi ein. Sie machte
nicht einmal den Versuch der Rechtfertigung sondern stellte nur eine Schüssel
Nudelsalat auf den von mir zusammengebauten und von meiner Mutter abgewischten
Küchentisch.

„Nudelsalat? Selbstgemacht? Und das trotz deiner Fortbildung? Oh, Heidi“, sagte meine
Mutter, indem sie die Mischung mit hochgezogenen Brauen in Augenschein nahm.

An Heidi gerichtet war dies ein eindeutiges Lob, was Heidi natürlich wusste, denn sie
lächelte zufrieden. Wären die Worte meiner Mutter an mich gewandt gewesen,
hätte ich mich kritisiert gefühlt. So aber bereiteten wir Tee zu und setzten
uns um den Küchentisch, wo wir Heidis Nudelsalat unter weiteren Lobessprüchen
verzehrten.

Ich möchte festhalten, dass meine Schwester keineswegs eine herausragende Köchin ist. Aber
ihr Salat war gemessen an vielen Nudelsalaten in Deutschland erstklassig und
verdiente Lob, wenn auch nicht die Hymnen meiner Eltern und Andys.

Während wir noch am Tisch saßen, klingelte es. Im Treppenhaus stand Sandra Menserhagen.
Mein erster Gedanke war, sie wolle sich wegen des Einzugslärms am Sonntag
beschweren, schließlich bewohnte meine Vermieterin die Erdgeschosswohnung. Doch
Frau Menserhagen fühlte sich nicht gestört.

„Es war jetzt so lange ruhig, da dachte ich, Sie machen eine Pause. Ich wollte Ihnen einen
kleinen Willkommensgruß ...“

Verlegen hielt sie mir einen Kuchen entgegen. Ich hatte Frau Menserhagen von unserer ersten
Begegnung an nett gefunden. Sie wirkte stets um das Beste bemüht, und immer ein
klein wenig so, als gehörte sie nicht völlig in diese Welt. Früher bezeichnete
man Frauen dieses Typs als alte Jungfer. Mir erschien sie tatsächlich alt,
weshalb ich sie, obwohl sie offensichtlich jünger als meine Eltern war, wie
eine fragile ältere Person behandelte.

Mit ihrem Kuchen in der Hand lud ich sie ein, sich in der Wohnung umzusehen. Das lehnte
sie ab, aber ich konnte sie überreden, einen Tee mit uns zu trinken. In der
Küche waren meine Umzugshelfer von ihrem Erscheinen überrascht, machten aber
erfreut Platz für einen weiteren Stuhl.

Nachdem sie eine Tasse Tee getrunken hatte, überredete meine Mutter Frau Menserhagen doch
noch, die halb eingerichtete Wohnung zu besichtigen. In der Zwischenzeit wusch
ich mit Heidi das Geschirr ab. Auf dem Weg ins Badezimmer hörte ich dann mit
an, wie meine Mutter im Wohnzimmer über weitere Einrichtungspläne referierte.

„Blaue Gardinen, dachte ich. Das wäre ein schöner Kontrast zum Laminat. Das hat einen
herrlich warmen Ton. Ziemlich neu, nicht wahr?“

Ich verdrehte die Augen. Unsichtbar für mich gab Frau Menserhagen ihre Antwort.

„Etwa zwei Jahre. Vorher lag hier Teppichboden, aber ...der musste raus.“

„Teppichboden ist schwer zu reinigen. Manche Flecken wie Blut oder Rotwein gehen fast gar
nicht raus. Da kann man machen, was man will.“

„Ja ... ja, natürlich“, stimmte Frau Menserhagen mit diesem für sie typischen Zögern zu.
Vielleicht empfand sie Flecken im Teppich als etwas sehr Persönliches, über das
man nicht mit Fremden diskutierte.

Ich betrat nun das Bad. Als ich zurückkam, standen die beiden immer noch an der Balkontür.

„Und natürlich die Ruhe“, hörte ich meine Mutter. „Christa wird beruflich viel unterwegs sein.
Bei diesem Stress tut es ihr gut, dass es hier so ruhig ist. Und mit den
Sicherungen an Fenstern und Türen muss sie sich keine Sorgen wegen ungebetener
Besucher machen.“

„Ungebeten? Oh, Sie meinen Einbrecher?“

„Ja, natürlich. Was sonst?“

„Was sonst? Ach, sicher nicht. Das heißt, hoffentlich nicht. Man kann nie wissen.“

Kopfschüttelnd ging ich ins Schlafzimmer, wo Heidi mein Bett bezogen hatte.

„Du brauchst eine größere Bettdecke“, teilte sie mir mit.

Optimistisch hatte ich ein Doppelbett angeschafft. Die zweite Matratze war lediglich mit einem
Spannbetttuch bezogen. Das Gesamtbild wurde dadurch etwas unausgeglichen.

„Ja. Aber das Bett war erst einmal wichtiger.“

„Und dann brauchst du alle Garnituren zweimal. Es sieht so furchtbar aus, wenn zwei
verschiedene Garnituren auf einem Bett sind.“

Misstrauisch musterte ich sie. Natürlich waren wir keine Teenager mehr, aber bei Heidi
kämpfte ich noch sehr mit der Vorstellung, sie könnte mit einem Mann das Bett
auch zum Schlafen teilen. Heidi bemerkte meinen Blick und strich sich
automatisch eine Strähne aus den Augen.

„Was denn?“ fragte sie gereizt.

„Hast du einen neuen Freund?“ verlangte ich zu wissen. Sie hob die Schultern.

„Und wenn?“

„Dann hätte er hier helfen können. Wäre doch eine gute Gelegenheit gewesen, sich bei den
Eltern positiv einzuführen.“

Erstaunlicherweise warf Heidi mir nicht vor, ich würde nur an mich denken, wie sie es sonst so oft
tut. Stattdessen betrachtete sie mit gerunzelter Stirn meine Handtuchstapel,
die drauf warteten, in den Schrank geräumt zu werden.

„Ach, ich weiß nicht. Vati war schon immer so anti mit den Jungs. Und socialnetworking war nie
seine Stärke“, murmelte sie, während ich sie verblüfft anstarrte. Eilig sah sie
auf die Uhr.

„Ich muss weg. Ich habe noch etwas vor.“ Nun war ich beleidigt, hielt sie aber nicht auf.

Heidi eilte aus der Wohnung. In der Küche versicherte Andy Vosgerau gerade seiner Frau, er
werde im Laufe der nächsten halben Stunde nach Hause kommen. Als ich die Wohnungstür
hinter Heidi schloss, kam er in den Flur, das Handy noch in der Hand.

„Christa, ich fahre jetzt auch. Du hast das Chaos ja gut im Griff, so wie immer.“

Ich bedankte mich noch einmal für seine Hilfe. Währenddessen kam meine Mutter mit Frau
Menserhagen aus dem Wohnzimmer. Einen Moment lang musterte Frau Menserhagen
Andy, ehe sie verkündete, sie dürfe mich nicht länger aufhalten. Da sie die
ganze Zeit mit meiner Mutter geredet hatte, fand ich die Bemerkung unpassend.
Nachdem sie mir nochmals die Hand geschüttelt hatte, ging sie die steile Treppe
hinunter.

Gleich darauf folgte ihr Andy. Mein Vater winkte ihm vom Küchenfenster aus nach, dann drehte
er sich zu mir um.

„Das war also deine Vermieterin. Nett, eigentlich. Wie heißt sie noch?“

Meine Mutter war ebenfalls in die Küche gekommen.

„Menserhagen. Das war Sandra Menserhagen, Jörn.“ Er schüttelte den Kopf.

„Woher kenne ich den Namen, Kati?“ Meine Mutter seufzte ganz leise, ich bin sicher, nur ich
konnte es hören.

„Ihr Vater war der Inhaber von Menserhagen Bau in Oberlethe.“

Menserhagen Bau hatte die vier Einfamilienhäuser auf dem Grundstück des niedergebrannten
Nachbarhauses errichtet. Über ein halbes Jahr hatte mein Vater vom
Küchenfenster auf das Bauschild gesehen. Jetzt dämmerte auch seine Erinnerung.

„Klar doch. Aber war der Inhaber nicht jemand anders? Da stand ein anderer Name ... Warte
... Irgendwas Priem, oder? Walter Priem, ja?“

Meine Mutter hob laut die Schultern, eine Angewohnheit, die auch echter Resignation noch
eine Spur Aggressivität verlieh.

„Kann sein, Jörn. Der Menserhagen ist schon ein paar Jahre tot.“

Sie schwieg nachdenklich, dabei sah sie sich um, ob es noch etwas in der Wohnung zu
erledigen gäbe. Aber ehe sie die Gardinen genäht hätte, bliebe für sie nichts
mehr zu tun. Auch für meinen Vater sah sie keine weiteren Aufgaben. Also gab
sie ihm ein Zeichen und sie verabschiedeten sich.

Mitten in der Diele blieb sie plötzlich stehen.

„Hast du etwas vergessen, Mutti?“ fragte ich. Meine Mutter schüttelte den Kopf.

„Kurt. Kurt Menserhagen“, sagte sie triumphierend. Mein Vater und ich sahen sie an.

„Wer?“ fragte ich dann, als sie nicht weitersprach.

„Kurt Menserhagen. Ich kannte einen mit dem Namen am Technischen Gymnasium in
Oldenburg.“

„Und wer ist das? Der Vater von Christas Frau Menserhagen kann er schlecht sein, Kati.“
Meine Mutter warf ihm einen wissenden Blick zu, als wolle sie anzeigen,
durchaus verstanden zu haben, was er meinte. Dann hob sie für ihre Verhältnisse
leise die Schultern.

„Nein. Natürlich war das nicht Frau Menserhagens Vater. Sie ist ja etwa in unserem
Alter.“

Meine Eltern waren so alt, dass sie Leute, die fünf Jahre jünger oder älter waren als sie
unter diesem Ausdruck zusammenfassten. Aus meiner Sicht fiel Sandra Menserhagen
noch nicht in die Kategorie.

„Wieso kanntest du Leute vom Technischen Gymnasium, Mutti? Du warst doch am Hauswirtschaftsgymnasium“, wandte ich ein, als ob mit diesem Argument die Beziehungen meiner Mutter zu der anderen Lehranstalt gekappt werden könnten. Ungerührt sah sie mich an.

„Das schon, Christa. Aber du vergisst, dass ich ein Leben vor deinem Vater hatte. Mein
damaliger Freund war am Technischen Gymnasium. Und da hing er mit einem Kurt
Menserhagen herum. Das muss ja kein Verwandter von deiner Frau Menserhagen
sein.“

„Nein, wahrscheinlich nicht“, beeilte sich mein Vater zu sagen und drängte seine Frau
aus der Wohnung. Erst dachte ich, er wäre aus irgendwelchen Gründen ärgerlich,
aber unten am Auto sah ich sie miteinander lachen.

3. KAPITEL

 

Am Montag war Herr Meinert aus dem Urlaub zurück und wurde mir vorgestellt. „Ach, du bist die
neue Kollegin“, folgerte er aus der Tatsache, dass es vor drei Wochen in seinem
Büro noch keinen zweiten Schreibtisch gegeben hatte. „Harald Meinert. Sag Harry
zu mir.“ Ich versprach es.

Harry war eine bemerkenswerte Erscheinung, und das nicht nur im Kontrast zu Frau von Geldern,
die an diesem Tag den elften Faltenrock ohne Wiederholung in Folge auftrug.
Mittelgroß traf ziemlich genau seine Körperlänge, und hager beschrieb den
Eindruck, den seine Statur erweckte, obschon seine Schultern nicht in dieses
Bild passen wollten. Die waren extrem breit, so dass ein größerer Mann sie
vorteilhafter hätte tragen können. Weil er mit dieser Verteilung
berechtigterweise unzufrieden war, trug er seine Haare lang, und zwar in einer
Art fest verwobenen trapezförmigen Block, der von seinen Augenbrauen bis zu den
Schulterblättern reichte. Selbst bei stärkstem Wind geriet das Trapez kaum in
Bewegung.

Ob in seiner lange zurückliegenden Faustballerkarriere auch schon diese kompakte Masse starr
auf seinem Rücken geruht hatte, verriet er mir nicht, aber ich versuchte
natürlich, es mir auszumalen.

Interessanterweise schwitzte Harry Meinert nie. Wir trafen Mitte Juni aufeinander, und außerhalb
der klimatisierten Geschäftsstelle war es sehr warm, an manchen Tagen sogar
unbestreitbar heiß. Auf Harrys Stirn glänzte nie eine Schweißperle, seine
Hemden, die ihm bis auf den Schulterbereich zu groß waren, wiesen unter den
widrigsten Bedingungen keine feuchten Stellen auf. Nach Arbeitstagen, an denen
er ausschließlich unter stärkster Sonnenbestrahlung von Wohnobjekt zu
Wohnobjekt gefahren war, ging von ihm lediglich ein leichter Estragongeruch
aus.

Sprachen Heidi und ich über Harry Meinert, nannten wir ihn den coolen Harry, denn zweifelsohne
konnte man diesen Mann nur als cool im wahrsten Wortsinne bezeichnen.

Hätte es Unternehmen wie „Crea. Heim und Pflege“ schon in der Jugend meiner Eltern
gegeben, wären Harrys und meine Positionen nicht mit studiertem Personal
besetzt worden. Heutzutage existierten zahlreiche solcher Firmen, und
Tätigkeiten, für die man vor zwanzig Jahren Fachkräfte mit Realschulabschluss
eingestellt hätte, vergab man zum gleichen Tarif an Akademiker, denn die können
Anliegen angeblich besser kommunizieren.

Harry leitete den Wohndienst von „Crea. Heim und Pflege“. Damit war er nicht mein
Vorgesetzter, eher, wie Frau von Geldern in eindringlichem Ton zu uns beiden
sagte, ein erfahrener Kollege, der mir die benötigten Räumlichkeiten beschrieb,
die ich dann akquirieren würde. Dabei könne Harry mir zunächst noch zur Seite
stehen, ebenso bei der Abwicklung von Umbauarbeiten, insbesondere derer, die er
selbst in Auftrag gegeben hatte. Harry zwinkerte mir zu und versprach Frau von
Geldern, mich nicht als seine Azubine zu behandeln. „Ach, Sie wissen doch, dass
ich dieses Wort nicht mag“, entgegnete die und ließ uns alleine.

„Weiß der Himmel, was die von mir denkt“, sagte Harry zu mir. Er stellte ein paar Fragen
zu meiner Herkunft und meiner Berufserfahrung. „Das ist ja ein ganz schöner
Schritt, von einer Bildungsmaßnahme im Knast zur Akquise von Wohnungen für BestAger
und Pflegebedürftige“, stellte er dann fest. Ich nickte zustimmend. Man konnte
bei objektiver Betrachtung verstehen, weshalb meine Mutter die lokalen
Stellenangebote sämtlicher Medien durchforstet hatte. Sie hätte alles getan, um
mich aus dem Knast zu holen. Aber natürlich verriet ich Harry nicht, wer mich
auf die Ausschreibung bei „Crea. Heim und Pflege“ aufmerksam gemacht hatte.

Zusammen gingen wir die laufenden Renovierungsmaßnahmen durch. Bisher hatte ich wenig
unternehmen können, weil Harry als alter Einzelkämpfer niemandem Einsicht in
seinen Arbeitsbereich gewährt hatte, niemand mich also hatte einarbeiten
können. Nun ging es los, und ich war froh, wenigstens den Umzug hinter mich
gebracht zu haben, denn die nächsten Wochen verbrachte ich fast ausschließlich
im Auto und in Wohnungen, die „Crea. Heim und Pflege“ angeschafft hatte und nun
in Hinblick auf die Bedürfnisse bewegungseingeschränkter Menschen umbaute.

*

Zügig rollt der Verkehr auf Sage zu, ebenso zügig rollen weitere Autos in die entgegengesetzte
Richtung nach Wardenburg und weiter in die Großstadt Oldenburg. Auch am
längsten Tag des Jahres ist die Dämmerung schon gefallen. Scheinwerfer werfen
breite Lichtkegel auf die Fahrbahn. Daneben liegen die Seitenstreifen im
Dunkeln. Gegenüber, hinter einer Hecke, leuchten gelb die Fenster eines Hauses.

Von diesem Standpunkt aus sind sie nicht in ihrer Gesamtheit einsehbar, doch bekanntlich
sind es drei beiderseits der Eingangstür mit hohem runden Bogen, sieben im
ersten Stock, sieben im zweiten. Dort oben sind drei erleuchtet, im ersten
zwei. Früher war es umgekehrt. Früher war es oben meist dunkel, früher war der
ganze erste Stock erleuchtet.

Früher war eine andere Zeit.

Unter schweren Schritten knirscht Sand. Säße jetzt neben dem Fahrer des vorbeifahrenden Autos
ein Beifahrer, und hielte der es für lohnend, zwischen die fast unsichtbaren
Stämme der Bäume zu starren, dann sähe er vielleicht dunkle Bewegung vor
tieferem Schatten. Doch die Silhouette vor den Scheinwerfern eines
dahinterfahrenden Autos zeigt nur einen einsamen Fahrer, der schon mit dem
nächsten Wimpernschlag aus Sicht und außer Reichweite ist.

Zeit ist vergangen. Kein Auto ist nun mehr auf der Straße zu sehen. Jetzt hört man nur
den Wind in Baumwipfeln und gedämpfte Schritte auf dem Asphalt, als jemand
eilig die Fahrbahn überquert. Hinter der Hecke sind Geräusche aus dem Haus zu
vernehmen. Musik klingt hinter gekippten Fenstern, vor denen Fliegennetze
wehen. Vorhänge hindern die Sicht in den Raum.

Unter leisestmöglichem Knirschen gehen Schritte zur Tür und hinauf auf Stufen aus
Beton. Eine Hand testet den Türgriff, doch wie erwartet ist die Tür abgeschlossen.
Sie ist immer abgeschlossen, frühere Versuche haben das oft genug bewiesen.
Früher schon kam man nur unter Klingeln ins Haus.

Die Schritte entfernen sich. Später wird man drei zusammengebundene rote Rosen auf der
Treppe finden. Die Überraschung hielte sich in Grenzen, man wäre nur zum
wiederholten Male verwundert. Wie jedes Mal enden die Blumen im Abfall.

*

Ich hatte eine Wohnung in Sandkrug besichtigt und nach Harrys Spezifikationen auf ihre Eignung
überprüft. Er suchte händeringend eine Unterkunft für eine bestehende
Wohngruppe, die wegen fortschreitender Gebrechlichkeit nicht in den jetzigen
Räumen bleiben konnte. Erste Angehörige sprachen bereits davon, ihre Verwandten
anderwärtig unterzubringen. Ich war mit dem Objekt nicht zufrieden gewesen,
glaubte auch sicher, Harry wäre es nicht, hätte er das Treppenhaus gesehen.
Allmählich sah ich Probleme für diese Wohngruppe.

Ehe ich nach Wardenburg zurückfuhr, holte ich mir bei einem Verbrauchermarkt an der
Sandkruger Straße mein Mittagessen, bestehend aus abgepackten Croissants, einem
Apfel und einer Flasche Wasser. Über die Sandkruger Straße wäre ich schnell in
Wardenburg und könnte Harry Bericht erstatten, aber der aß mittags immer bei
dem DönerImbiss an der Oldenburger Straße, gleich bei „Crea. Heim und Pflege“
um die Ecke, und wollte sich dann, wie er täglich betonte, nicht aufregen. Also
konnte ich mir Zeit lassen.

Ich verstaute Croissants und Apfel im Kofferraum neben einer Kiste mit den Unterlagen für die
Umbauprojekte, die ich an diesem Vormittag besucht hatte. Die Flasche hielt ich
mir kurz an die Wange. Angenehm fühlte sich der Kunststoff auf meiner Haut an,
obwohl die Flasche nicht im Kühlregal gestanden hatte. In meinem trockenen Mund
schmeckte das Wasser frisch. Gierig trank ich ein paar Schlucke und spürte
erleichtert dem Weg des Getränks von meinem Mund durch den Hals nach.

Aus diesem meditativen Akt schreckten mich Stimmen auf. Langsam öffnete ich die Augen und
nahm die Flasche vom Mund. Um mich herum beluden Kunden des Verbrauchermarktes
ihre Autos mit Lebensmitteln. Zwei Parklücken weiter stand ein älterer Kleinbus
in staubigem Rot. Die hintere Tür war aufgeschoben. Von meinem Platz aus sah
ich in seinem Innenraum zahlreiche Kartons und Kisten. Gerade packte ein Mann
eine weitere Kiste dazu.

„Das war die letzte“, hörte ich ihn sagen. Jemand kletterte aus dem Innenraum auf den
Parkplatz und schloss die Schiebetür.

„Danke für Ihre Hilfe“, sagte die Person. Der Mann wischte sich über die Stirn. Ich konnte
sehen, wie vor seinen Ohren Schweiß den Hals hinunter lief.

„Kein Problem, Frau Muh. Schönen Tag noch.“ Die Frau ging um das Auto herum zur Fahrertür.
Gleich darauf fädelte sich der Wagen in die Reihe der Autos an der Abfahrt ein.

Reglos stand ich an meinem offenen Kofferraum. Beinahe wäre mir die Flasche entglitten.
Inzwischen war der Mann fort, ich hatte nicht sehen können, wohin er gegangen
war oder ob seine Kleidung ihn als Mitarbeiter einer der Firmen rund um den
Parkplatz auswies. Aber in dem roten Kleinbus, der gerade links auf die
Sandkruger Straße abbog und Richtung Bahnhof fuhr, hatte eine Muh gesessen. Ihr
Gesicht hatte ich nicht sehen können, nur den Namen gehört und ihre Stimme.

Es musste Bea Muh sein, eine der beiden Überlebenden aus der Familie, die im Bergerschen Haus
an Rauchvergiftung umgekommen war.

(...)

 

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