Es geht hier nicht um den literarischen Realismus im 19. Jahrhundert, sondern um die Frage nach der Möglichkeit einer realistischen Darstellung im Roman. Literaturgeschichtliche Informationen finden Sie beispielsweise auf literaturwelt.com. Wenn Sie unschlüssig sind, ob Sie nicht doch hier richtig sind, möchte ich die Frage aus der Überschrift präzisieren: „Kann man beispielsweise ein Gespräch während des Abendessens realistisch beschreiben? Wenn ja, wie?“
Daran schließen sich zwei weitere Fragen an.
Die eine berührt das zu Beschreibende: das Gespräch während des Abendessens. → Was ist ein Gespräch beim Abendessen?
Die andere berührt das Schreiben. → Wie berücksichtige ich alles, ohne die Leser zu langweilen?
Leser sollten niemals ganz vergessen werden. wir erwarten so viel von ihnen, etwa kaufen, lesen, weiterempfehlen. Das werden sie nur tun, wenn wir sie weder überfordern noch unterfordern. Das werden sie niemals tun, wenn wir sie langweilen.
Was ist ein Gespräch beim Abendessen?
Die Antworten auf diese Frage sind vielfältig. Je nachdem wie wir leben, haben wir ganz unterschiedliche Vorstellungen von einem Abendessen und über die Gespräche, die in so einer Situation passen oder auch nicht passen. Leser haben andere Vorstellungen als wir. Leser haben keine einheitliche Vorstellung von der Welt. Wenn wir meinen, das Gespräch beim Abendessen ist wichtig für unseren Roman, müssen wir ein Bild dieser Szene dem Leser vermitteln. Eine detailgetreue Darstellung von Raum und Tisch würde Seiten verschlingen, ehe der erste Gesprächsteilnehmer den Raum betreten hätte. Da hilft nur, die wichtigsten neuen Informationen zu liefern und zu hoffen, dass die Leser alte Informationen aus den Szenen vor dem Abendessen noch in Erinnerung haben.
Der Raum, die Ausstattung, die Speisen und die Menschen werden in den Köpfen der Leser anders aussehen, gleichgültig wie klar wir ein bestimmtes Bild vor uns haben. Wichtig sind daher dezente Hinweise auf Aspekte, die diesen Esstisch besonders machen und später noch eine Rolle spielen. Das könnte die Suppenterrine in Form einer Tomate sein. Im Verlauf des Gesprächs über Kitsch und Kunst wird diese Terrine zum Anknüpfungspunkt, zum Zankapfel und schließlich zur Waffe. Diese Suppenterrine steht auf dem Tisch, Suppe wird daraus verteilt, Anwesende machen Bemerkungen, greifen nach der Terrine. Das alles können Sie wie nebenbei abhandeln, denn für Leser ist das Gespräch über die Terrine wichtiger als die Terrine.
Wie berücksichtige ich alles, ohne den Leser zu langweilen?
Vielleicht haben Sie schon einmal die ungeschnittene Videoaufzeichnung einer tollen Party angesehen und sich gewundert, weshalb Sie nicht schon nach einer Viertelstunde wieder gegangen sind.
Der Abstand zwischen zwei wirklich guten Witzen ist im realen Leben oft länger als eine Stunde. Eine Erklärung, wie der Besuch beim Arzt abgelaufen ist, dauert oft über zwanzig Minuten. Das niederzuschreiben eignet sich als Experiment. Als Bestandteil eines Romans, der eines Tages gelesen werden soll, ist es tödlich.
Das Leben der Charaktere in einem Buch sollte immer eine Essenz des Lebens außerhalb des Buchs sein. Das betrifft besonders die Dialoge. Dialoge in Romanen sind immer auf eine Erkenntnis ausgerichtet. Selbst wenn die Charaktere nicht in der Lage sind zu erkennen, dass sie nicht nur über eine Suppenterrine in Tomatenform, Kitsch und Kunst streiten, müssen die Leser entdecken können, welcher Charakter überheblich und welcher pragmatisch ist. Das kleine Streitgespräch sollte auch Hinweise geben, wie sich ein Charakter in anderen Situationen verhalten hat oder wird.
Natürlich dürfen Sie in Ihrer ersten Version den Raum und das Gespräch ausführlich und in realer Dauer beschreiben. In der Überarbeitung obliegt Ihnen jedoch die Aufgabe, die Szene auf die Essenz zu konzentrieren. Dabei werden zahlreiche gelungene Formulierungen verlorengehen. Das ist immer so und es ist immer schmerzhaft. Aber lohnend.
Hilfreich ist auch die Lektüre eines vollständig und originalgetreu transkribierten Interviews. Au weia – niemand möchte sowas lesen!
Hallo Elke,
genau. Interessant ist nur, dass Menschen beim Zuhören überhaupt etwas verstehen. Lesen kann man so etwas nicht.