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Die Reise nach Venedig
So hatte ich mir das nicht vorgestellt! Leicht genervt hockte ich in der Schulbank und folgte widerwillig dem Unterricht. Der Lehrer stellte eine Frage, aber ich verzichtete darauf, mich zu melden. Er würde meine Wenigkeit, wie üblich, sowieso nicht berücksichtigen. Genau wie seine Schüler registrierte er mich nicht. Ich war die Neue und damit eine Totgeburt im Schulzimmer.
Der Umzug in die Stadt hatte mir Angst gemacht. Ich wusste, ich musste ganz von vorne anfangen, ohne Freunde! Im Dorf war ich in der Clique zu Hause gewesen. Vom Kindergarten weg kannten wir uns. Und jetzt? Niemand interessierte sich für das Landei, das aussah wie frisch vom Bauernhof. Ich war für sie höchstens eine freilaufende Kartoffelpflanze, mehr nicht. Kaum sagte ich einen Satz, war ich auch schon Luft. Wenn überhaupt, bekam ich höchstens missbilligende Blicke. So wurde ich still und stiller, denn ich hatte keine Stimme, wurde nicht gehört.
Dann kam der Tag, an dem wir die Aufsätze zurückerhielten. Er beschrieb die letzten Ferien, die wir erlebt haben. Bei mir war das Venedig! Diese wunderbare Metropole mit ihren dunklen Gassen und den königlichen Geheimnissen war in den Text geflossen, wie Gold, das geschmolzen durch eine Rinne lief. Eben das hatte ich, in Erinnerungen schwelgend, erzählt.
Jedesmal durfte einer aus der Klasse seine Arbeit laut vorlesen. Der Lehrer rief diesmal, zum Erstaunen aller, mich auf. Nervös starrte ich auf meine Blätter und stotterte durch die Sätze. Ich bemerkte nicht, wie es in Raum ruhig wurde und wie mich die hungrige Meute erstaunt anstarrte. Mein Geist war wieder in Italien, in der Hitze und ich roch die fremden Gerüche, hörte die gurrenden Tauben auf dem Markusplatz. Nachdem in den Text zu Ende vorgelesen hatte, klatschten die Mitschüler zögerlich. Nicht lange und die anderen stimmten mit ein.
Von diesem Tag an sprachen sie zwar immer noch nicht mit mir, hörten aber zu, wenn ich im Unterricht etwas sagte. Natürlich wurde ich auf dem Pausenplatz trotzdem ignoriert. Bis zum nächsten Aufsatz, wo sich das Spiel wiederholte. Von da an grüssten sie mich sogar auf der Strasse. So ging es Stück für Stück weiter, bis meine Banknachbarin mich um Hilfe anfragte. Ich sollte ihr einen Text anfertigen. Es war eine Hausaufgabe, die sie nicht hinbekam. Ihre Begabung lag eher beim Turnen, denn beim Schreiben. Den Gefallen tat ich ihr und sie erhielt eine gute Note.
Von da an durfte ich mit ihr und ihren Freunden die Pause verbringen. Welch eine Errungenschaft! Nach Wochen war das der erste wirkliche Erfolg, denn ich blieb nicht mehr ungehört oder ungesehen. Unerwartet besass ich das Recht zu sprechen. Da ich sonst als Bücherwurm wenig Aufregendes zu bieten hatte, konzentriert ich mich auf die Aufsätze. Es tat sich dennoch nicht viel mehr. Immerhin war ich nützlich und konnte helfen, aber damit war die Sache auch schon erledigt.
Ich verstummte so langsam wieder. Gereizt schrieb ich die nächste Arbeit. Es ging um das alte Ägypten, was eine Menge Stoff bot. Das Thema Mumifizierung fand ich faszinierend. Dabei stellte ich mir knurrend vor, wie ich meine lieben Mitschüler in Tücher einwickelte, um sie in der Pyramide einzumauern. Mit einem Teddybären, den ich dementsprechend präpariert hatte, demonstrierte ich, wie Mumien damals hergestellt wurden. Ich sezierte den unschuldigen kleinen Kuschelbären vor der ganzen Klasse, zog ihm das Gehirn aus der Nase und operierte die Organe heraus.
Das Ergebnis war äusserst belustigend. Einige Klassenkameraden hingen nämlich, grün im Gesicht, über den Toiletten. Offensichtlich waren ihnen meine plastische Darstellung und der entsprechende Text zuviel. Es führte jedoch dazu, dass ich anders wahrgenommen wurde. Plötzlich hatte ich eine starke Stimme, eine die gehört wurde, weil sie Grausames verkündete. Ich war nicht mehr das Landei, der Lauch mit den merkwürdigen Hosen, sondern das Mädchen mit dem Hang zum Sonderbaren. Das kam an!
Diese Aufsätze veränderten mein Leben. Es sind die ersten Texte, die ich bewusst in Erinnerung habe. Ich lernte, dass Buchstaben eine Bedeutung bekommen, je nachdem, wie ich sie zusammensetzte. Nichts besass eine vergleichbare Wirkung. Dieser Faszination bin ich bis heute erlegen, denn nur wenig ist so nachhaltig wie ein gutes Buch oder ein solcher Kurztext. Dabei bin ich meiner morbiden Ader treu geblieben. Es macht mir inzwischen durchaus Spass, Menschen an ihre Grenzen zu führen. Gut, ab und zu auch darüber hinaus, denn der Wahnsinn lauert überall. Er muss nur aufgeschrieben werden!
Le. Alex Sax