Dieser Post beginnt mit einem Rückblick: 1988 suchte mein Vater einen Ort für den jährlichen Ausflug des Kirchenchors. Zusammen mit meiner Freundin, die im Französischleistungskurs genügend Sprachkenntnisse für Verhandlungen erworben hatte, fuhren wir von Aachen über die grüne Grenze nach Belgien. Ziel war ein Kloster in der Wallonie, dem französischsprachigen Teil Belgiens. Dort sollte der Chor singen und anschließend essen. Wir setzten uns in das Restaurant des Klosters und warteten auf einen Mönch, um zu bestellen und zu fragen, an wen wir uns wegen des Chorauftritts wenden konnten. Niemand kam zu uns.
Schließlich fragte meine Freundin auf Französisch, ob wir bestellen könnten. Man brachte uns die Speisekarten. Irgendwann kam das Essen. Dann erklärte mein Freundin, wieder auf Französisch, weshalb wir da waren. Der Mönch wurde etwas freundlicher und brachte uns zum Abt. Der ließ sich unser Ansinnen auf Französisch erklären und verhandelte auf Französisch mit meinem Vater. Meine Freundin übersetzte. Als alles besprochen war und die Termine feststanden, wechselte der Abt unversehens ins Deutsche, erklärte, er freue sich sehr auf den Besuch des Chors und lud uns ein, die Kirche und die kleine Ausstellung im Kloster zu besuchen. Das taten wir.
Während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg gab es in Ostbelgien zahlreiche Partisanengruppen. Deutsche Soldaten waren gegen Kriegsende in der Nähe des Klosters angegriffen worden. Als Racheaktion wurden alle Mönche erschossen. Das war kein Einzelfall. Darum mochte man in Ostbelgien keine Deutschen. Als solche.
Als ich 1992 nach einem Jahr in Großbritannien zurück nach Deutschland kam, brannten in Rostock-Lichtenhagen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber und das Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter. Blühende Landschaften waren in meiner Abwesenheit nicht entstanden, stattdessen kam es im ganzen vereinigten Deutschland zu Übergriffen gegen Leute, die fremd aussahen und es größtenteils auch waren. Die Menge der Gewalttaten machte es notwendig, darüber zu berichten. Nach wie vor neigen die deutschen Medien dazu, einzelne Übergriffe gegen als „anders“ definierte Menschen zu unterschlagen.
Als ich anfing zu schreiben, hatte ich solche Bilder im Kopf. Nicht nur, aber auch. Ich hörte auch noch die klugen Aussagen meiner Geschichts- und Politiklehrer, nicht zuletzt sämtlicher Politiker der Vorwendezeit im Westen: Wir haben aus dem Nationalsozialismus gelernt. So etwas wird es nie wieder geben. Schöne Worte. Teilnehmer in Deutschkursen erzählten mir von einer Zugfahrt von Rostock nach Hamburg. Die ganze Zeit hat die Familie geschwiegen, die Kinder durften nichts sagen und mussten stillsitzen. Mit im Großraumabteil waren Fußballfans, die ausländerfeindliche Parolen grölten. Diese blonde Familie aus Russland wollte kein Risiko eingehen.
So schleicht sich das Thema Fremdheit immer wieder in meine Bücher. Sich-fremd-fühlen, mit mal mehr mal weniger Grund. Als-fremd-angesehen-werden, gleichgültig wo man herkommt. Die Konsequenzen dieser Wahrnehmungen erfahren, auf verschiedene Weise.
Ich kann die Sorge angesichts der Menge an Flüchtlingen nachvollziehen. Die deutsche Regierung hat offensichtlich kein Konzept, und die Europäische Union ist nur zu Verzögerung und Flickschusterei fähig. Es ist verdammt verführerisch, nur auf die Zahlen zu sehen, nur auf Gerüchte zu hören und in einfachen Antworten einen Ausweg zu sehen. Leichte Antworten haben unglücklicherweise die Eigenschaft, zu viele Faktoren völlig auszublenden. Leichte Antworten schaffen neue, gravierendere Probleme. Gerüchte machen unfähig, die Realität zu erkennen und führen oft genug in die Irre. Zahlen an sich sind unschuldig und ungefährlich. Man kann sie aber benutzen, um Menschen zu ängstigen. Und Angst lässt nach einfachen Antworten schreien, nach irgendetwas, das bloß schnell die Angst beendet.
Die Menschen, die in den Gemeinden ehrenamtlich mit den Flüchtlingen arbeiten, tun etwas gegen ihre eigene Angst. Das Tun, die praktische Arbeit mit den anderen Menschen, ihren Erfahrungen und Bedürfnissen, löst erstaunliche Energien aus, die Lösungen wenigstens vor Ort ermöglichen. Vielleicht sollte Angela Merkel wie die Prinzessin von Bagdad einmal inkognito dahin gehen, wo Flüchtlinge sind, und mit ihnen arbeiten. Nicht nur sie sollte das tun. Dann würde sich eventuell die Erkenntnis durchsetzen, dass die Flüchtlinge durch ihre Anwesenheit Deutschland zwar verändern werden, aber dass es so vieles schon vorher zu verbessern gab, das jetzt endlich auch in Angriff genommen werden könnte.
Die letzten Sätze waren im Konjunktiv geschrieben: Empfehlungen, Möglichkeiten. Nicht konkret. Damit sich diese Möglichkeiten zu konkreten Handlungen verändern, schreibe ich weiter. Denn Sprache ist ein Werkzeug. Für den Umbau unserer Gesellschaft ist das Werkzeug Sprache so wichtig wie Hammer und Meißel und Verwaltungsvorschriften.