Die Welt ist komplex. Es gibt einfache Antworten auf diese Komplexität, und differenzierte. Und es gibt Geschichten, die die Welt erklären. Wem überlassen wir diese Geschichten?
Die Nationalsozialisten haben viele eingängige Geschichten erzählt. Es gab die Bösen (Juden, Kommunisten und alle, die „anders“ waren) und die Guten (blonde vermehrungsfreudige und systemgläubige Deutsche). Wir wissen, welche Katastrophen diese Geschichten ausgelöst haben.
Die Alternative für Deutschland erzählt auch Geschichten. Auch da gibt es Gute und Böse. Die Guten sind wieder die blonden vermehrungsfreudigen und systemgläubigen Deutschen. Die Bösen sind „die Anderen“ und „das Andere“. Anders ist der Islam, also ist er „böse“ und nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Die Geschichten entfalten ihre Wirkung.
Einfache Geschichten erreichen einfache Gemüter. Sie erreichen Menschen, die es längst aufgegeben haben, die Komplexität der Welt zu durchschauen. Sie erreichen Menschen, die sich zu den Verlierern zählen. Sie erreichen verunsicherte Menschen, die nicht noch mehr Komplikationen gebrauchen können. Einfache Geschichten lullen das Denken ein. Sie machen Menschen zu Werkzeugen.
Wir Autoren können auch Geschichten erzählen. Es ist unsere vornehmste Aufgabe, die uns Verantwortung überträgt. Dabei ist es gleichgültig, in welchem Genre wir schreiben. Wir sind verpflichtet, die Erklärung der Welt nicht denjenigen zu überlassen, die Ängste schüren und die Bevölkerung spalten wollen. Es nicht einmal notwendig, ein ganzes Buch der Erklärung der Welt zu widmen. Ein klarer Satz hier, eine entlarvende Szene dort, eine aufklärende Idee an einer spannenden Stelle setzen den einfachen Geschichten von Gut und Böse Denkimpulse entgegen.
Der Krimiautor Lothar Birkner beispielsweise lässt seine Leser immer wieder über Vorurteile und Überzeugungen seiner Charaktere stolpern. Wer Lothar Birkners Bücher liest, begibt sich nicht nur auf rasante Verbrecherjagd, sondern taucht ein in Geschichten, die miteinander verwoben ein Bild unserer Welt erschaffen, das sich nicht auf Gut und Böse beschränken lässt. Die Identifikation mit Charakteren öffnet die Augen für Vielfalt und die Möglichkeiten dieser Vielfalt.
Jede Geschichte, die Leser für kurze Augenblicke nachdenken lässt, beugt dem Gift der einfachen Geschichten vor.