In den Sommergastbeiträgen begrüße ich heute die Autorin Marion Bischoff.
Eigentlich fing bei mir alles ganz anders an. Ich hatte ein Romanprojekt begonnen, das in der heutigen Zeit in einem kleinen Dorf spielte und bei dem die Protagonistin sehr jung schwanger wurde. Sie hatte mit einigen Schwierigkeiten zu kämpfen und ich fühlte mich dieser Figur verbunden. Doch gleichzeitig bemerkte ich bemerkte, dass mir beim Schreiben immer öfter die Worte fehlten. Nur wusste ich nicht, woran das lag. Meine liebe Kollegin und Mentorin, Lea Korte, öffnete mir die Augen. Sie hatte all meine Texte gelesen und fragte mich schließlich: „Marion, könntest du dir vorstellen, eine historische Geschichte zu schreiben? Deine Grundidee in die Kriegsjahre des zweiten Weltkrieges zu verschieben?“
Ruhe im Wald
Im ersten Moment war ich perplex und wollte von dieser Idee überhaupt nichts wissen. Ich schaltete den PC ab und suchte erst einmal die Ruhe des Waldes. Dazu muss ich sagen, dass ich direkt am Waldrand lebe und zum Nachdenken immer gerne dorthin gehe. Während ich den Waldweg entlanglief, wanderten meine Gedanken zurück. Ich überlegte, wie es hier wohl vor mehr als siebzig Jahren ausgesehen haben mochte, wer hier den Weg benutzt hatte und warum. Ob es zu dieser Zeit auch Menschen gab, die Ruhe im Wald suchten?
Diese und viele weitere Fragen flogen durch meinen Kopf, wie wild gewordene Ufos. Immer wenn sie gegen den Schädel prallten, durchzuckte es mich. Die Fragen wollten beantwortet werden, egal wie, egal von wem, und ich spürte es mit einem Mal ganz deutlich, dass ich mich damit befassen musste.
Erste Interviewpartner
Somit führte mich mein erster Weg zu meinen Großeltern. Ich erfuhr vieles, sehr vieles sogar. Zunächst einmal ihre eigene Geschichte, wie das war, als meine Großmutter die alten Schuhe ihres Bruders auftragen musste. Die Verformungen ihrer Füße hat sie behalten – bis heute. Die Situation, als ihr Bruder in den letzten Kriegsmonaten, als 16-Jähriger, zum Schanzen nach Frankreich gehen sollte.(Schanzer waren dafür zuständig, neue Schützengräben auszuheben und damit den gegnerischen Waffen schutzlos ausgeliefert. Mit sechzehn!!!) Jemand hatte ihn gewarnt – ihn und drei andere Dorfjungen in seinem Alter – und sie versteckten sich im Wald. Als es schon dunkel wurde, kam der SS-Mann, der Ortsgruppenleiter, mit dem Gendarmen an, um Rolf abzuholen. Doch wahrheitsgetreu erklärte mein Urgroßvater, dass sein Sohn nicht daheim sei und er auch nicht wisse, wo der Junge sei. Der Stellungsbefehl lag auf dem Küchentisch, und der Ortsgruppenleiter war außer sich vor Wut. Doch die Jungs waren verschwunden. Dass die Jungs, naiv und jung, zu früh zurückkehrten und dann mitten in der Nacht abgeholt wurden, trieb mir einen Schauer über den Rücken. Doch sie waren nicht ängstlich, ließen sich in den nächsten Zug setzen und sprangen während der Fahrt wieder heraus. Danach hielten sie sich bis zum Kriegsende im Wald versteckt. Niemand wusste genau, wo sie waren. Nur hin und wieder kamen sie nach Hause, um wenigstens eine Kleinigkeit an Essbarem zu holen.
Kinderdenken
Meine Großmutter war gerade zehn Jahre alt, als der Krieg ausbrach. Anfangs, sagte sie, veränderte sich für sie nicht viel. Außer dass ihre kleine Schwester nicht mehr bei den Nonnen in den Kindergarten ging. Sie wurde in der Schule von einer SS-Frau beaufsichtigt. Und meine Großmutter selbst hatte jedem Erwachsenen mit erhobenem Arm und dem Hitlergruß zu begegnen. Doch was dahintersteckte, das bemerkte kaum jemand.
Etwa zwei Jahre später wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass manche Dinge seltsam waren. Auf einmal waren die Hutverkäufer vom Nachbarort verschwunden, und auch der nette Uhrmacher war nicht mehr da. Wenn sie fragte, wo die denn seien, erklärte man ihr, die Juden seien verschickt worden. Darunter konnte sie sich nun nichts vorstellen und ging davon aus, dass die Leute eine Reise machten. Viel später hörte sie, dass Juden in Dachau seien. Aber was Dachau bedeutete, erfuhren sie erst viele Jahre nach dem Krieg.
In den Momenten des stillen Zuhörens dachte ich oft, wie naiv die Menschen doch waren. Dann fragte ich mich, ob es in unserer heutigen Zeit des „Immer-und-überall-ein-Foto-Postens“ noch möglich wäre, den Menschen solche Geschichten aufzutischen.
Jugendzeit
Die Zeit in der Hitlerjugend beziehungsweise im Bund Deutscher Mädchen beschreiben sowohl mein Großvater als auch meine Großmutter als schöne und erlebnisreiche Zeit. Manches Lied von damals geht ihnen heute noch über die Lippen, als sei es ihnen erst gestern eingebläut worden. Doch wenn sie es heute hinter vorgehaltener Hand und verschlossenen Türen singen, dann nur, um mir deutlich zu machen, was ihnen da an Propaganda eingetrichtert wurde. Unbewusst und unbeschwert haben sie so die Ideale Hitlers in sich aufgesogen. Naiv und gutgläubig gingen sie davon aus, dass Deutschland gar keine andere Chance hatte, als sich zu wehren und den Krieg einzugehen. Sobald sie heute davon sprechen, wie spät ihnen bewusst wurde, was geschehen war, da steigen ihnen Tränen in die Augen. Und nicht nur ihnen …
Voller Stolz und ahnungslos
Mein Großvater „durfte“ mit 14 Jahren seinen Führerschein machen und berichtet noch heute voller Stolz, wie er zum ersten Mal durchs Dorf fuhr. Natürlich mit einem Militärfahrzeug. Dass der Führerschein einer der Gründe sein sollte, warum er dann nach Russland musste, wurde auch ihm erst später klar. Als 17-Jähriger verbrachte er den Winter in den Prpjet-Sümpfen und sah unzählige Kameraden im Moor untergehen.
Das Leben gerettet
Ein Durchschuss im Bein rettete ihm vermutlich das Leben, denn aus seiner Einheit kehrten insgesamt nur drei Soldaten lebend zurück … Die Verwundung bescherte ihm in Deutschland Ende 1944 die Behandlung durch einen Arzt nahe Berlin. Dieser Arzt bat ihn, einen Brief an seine Frau mitzunehmen. Im Gegenzug dazu schrieb der Arzt meinen Großvater kriegsuntauglich. Er brachte den Brief nach Ludwigshafen zur Frau des Arztes, die ihn viele Jahre nach Kriegsende noch kontaktierte. Ihr Mann ist nie zurückgekehrt …
Es sind Einzelschicksale, die ich hier beschreibe, und doch waren es genau diese vielen Einzelschicksale, die den Krieg zu einem derart sinnlosen Unterfangen machten.
Und so weiter
Ich habe während meiner Recherche noch so viel mehr erfahren. Die Trauer einer alten Frau, die sich noch heute größte Vorwürfe macht, weil sie sich auf einen amerikanischen Besatzungssoldaten einließ. Nein, sich Hals über Kopf in ihn verliebte und dann von ihm schwanger wurde. Sie hat das Kind nicht geboren.
Und dann rief mich ein altes Ehepaar an, um mir mitzuteilen, sie hätten von meiner Recherche erfahren. Sie hätten interessantes „Material“ für mich. Freundlich luden sie mich ein vorbeizukommen und mir anzuschauen, was sie mir zu zeigen hatten. Obwohl ich die beiden Leute nicht kannte, nahm ich die Einladung gerne an. Das, was ich an diesem Abend erfuhr, jagt mir auch jetzt, beim Schreiben dieser Zeilen, noch einen Schauer über den Rücken.
Eine unglaubliche Anzahl von Feldpost haben sie gesammelt, Briefe von der Front und an die Front. Und alle Karten und Briefe der Soldaten enthalten den folgenden Satz: „Es geht mir noch gut.“ Dieses „noch“ rührte mich zu Tränen, denn sie erzählten mir, bei wie vielen aus dem „noch“ ein „nicht mehr“ wurde.
Geschäftsbriefe fand ich, vergilbt, aber gut lesbar. Liebesbriefe ihrer Eltern. Und irgendwann fragte ich mich, warum die beiden Leute so viel Feldpost von unterschiedlichsten Soldaten ihr eigen nannten. Denn adressiert waren die Karten und Briefe an ihre Eltern. Sie hatten die Post also nicht irgendwo gestohlen. Und dann hörte ich ihre Geschichte: Die Frau wohnte mit ihrer Familie nahe am Waldrand. Einige Male versorgten sie deutsche Deserteure, die am frühen Sonntagmorgen aus dem Wald kamen, wenn sie wussten, dass die Erwachsenen im Gottesdienst saßen. So verschenkte die Frau mehrmals den Sonntagskuchen, für den die Mutter die Woche über Mehl und Zucker aufgespart hatte, an die hungrigen Soldaten.
Und ich hörte von der Angst, die sie hatten. Keiner traute sich, seine Meinung zu äußern, keiner lehnte sich gegen das Regime auf. Zu groß war die Angst vor Zuchthaus und Dachau. Ohne zu wissen, was Dachau war.
Doch es gab auch die schönen Momente in dieser Zeit. Die glückliche Rückkehr eines Bruders. Die stillen Momente einer heimlichen Liebe. Die Glückseligkeit einer Heirat und die leckere Ziegenmilch, von der man hier auf dem Dorf heute noch schwärmt.
Was Recherche bewirken kann
Um ehrlich zu sein, habe ich mich zwar für die Geschehnisse des zweiten Weltkrieges während meiner Schulzeit interessiert. Doch dann legte ich die „Geschichte“ zu den Akten. Es ist ja schließlich lange genug vorbei.
Seit der Recherche für meinen Roman hat sich mein Denken verändert. Die vielen Gespräche mit Zeitzeugen, dazu die zugehörigen Geschichtsdaten, die mir das Internet und diverse Bücher lieferten, stimmen mich nachdenklich, lassen mich innehalten. Ich arbeite mit ungebremster Euphorie an meiner Geschichte, und ich kann jeder Autorin / jedem Autor nur empfehlen, sich ganz auf ein Thema einzulassen. Wir können so endlos viel für uns selbst mitnehmen. Die Recherche bereichert uns. Wir lernen neue Menschen kennen. Wir erweitern unseren Horizont, und wir können unsere Geschichten authentisch erzählen. Das ist es schließlich, was jeder von uns will.
Emotionen einer recherchierenden Autorin
Meine Emotionen lassen sich nur schwer in Worte fassen, und doch möchte ich es versuchen: Du sitzt da und hältst Feldpost aus den Jahren 1939 bis 1944 in der Hand, und plötzlich bist du mittendrin. Briefe aus der Heimat und an die Heimat. Geschäftsbriefe und Liebesbekundungen.
Und auf allen Briefen und Karten von der Front findest du diesen Satz „Es geht mir noch gut“ – und jedes „noch“ rührt dich zu Tränen.
Du fühlst die Ängste und Hoffnungen, du verstehst alle, die sich nichts zu sagen trauten, und diejenigen, die trotz allem ihre Meinung vertraten. Du erlebst den Hunger, als hättest du selbst seit Tagen nichts gegessen, und trauerst um Ehemänner und Söhne … die du gerade erst kennengelernt hast.
Und so freue ich mich heute darüber, mein Romanprojekt fertig geschrieben zu haben und hoffe darauf, einen Verlag mit diesem Projekt zu überzeugen. Ich erzähle die Geschichte einer jungen Frau, die in den Endkriegsjahren von einem Deserteur schwanger wird und aus Liebe zu ihm und ihrem Kind, ihr eigenes Leben riskiert.