Spannung entsteht durch eine Abfolge von gefährlichen Situationen und Katastrophen. Wer schon einmal in einem Actionfilm oder einem Horrorfilm eingeschlafen ist, darf diese Aussage anzweifeln. Davon abgesehen, dass viele Bücher (und auch Filme) ohne Explosionen und literweise Blut auskommen, stellt sich auch die Frage, ob Autoren die gefährlichen Situationen und Katastrophen umdeuten können.
Jede Szene in einem Buch sollte die Handlung voranbringen. Sie sollte das Verständnis des Lesers erweitern, ihm neue oder tiefere Einblicke in Charaktere und Motivationen liefern und zeigen, dass die Handlung voranschreitet. Gelingt das nicht oder ist der Fortschritt minimal, so dass Leser ihn leicht übersehen können, kann ein Autor überlegen, Szenen zusammenzulegen, damit der Leser mehr weiterführende Informationen findet und die Handlung besser verstehen kann. Die Handlung wird so kompakter und übersichtlicher.
Bleiben die gefährlichen Situationen und Katastrophen. Deuten wir die als Konflikte, passen sie besser in Bücher, deren Handlung weniger von offensichtlicher Gewalt, dafür von Problemen zwischen und in Charakteren geprägt sind. Probleme und Konflikte bedingen sich. Oft sind sie ganz klein, für Außenstehende zunächst nur eine Macke. Ein Mann, der bei der Entscheidung zwischen dem roten und dem gelben Hemd vergisst, dass er auch Zeit für das Frühstück einplanen sollte, erscheint harmlos. Was bedeutet diese Entscheidungsschwäche für die Handlung? Kann man diesem Charakter zutrauen, dass er sich zu der Entscheidung durchringt, der verfolgten Heldin zu helfen? Muss man damit rechnen, dass er in Zeitdruck gerät und einen Unfall verursacht, der wiederum Auswirkungen auf die Handlung hat? Es kann genügen, wenn der Leser den Kopf schüttelt und sich fragt „Meine Güte, was tut der Kerl sich an mit seiner Entscheidungsschwäche?“. Die Wahl zwischen dem gelben und dem roten Hemd steht stellvertretend für eine bedeutsame Entscheidung, die massive Auswirkungen haben wird.
In Vikram Seths Roman Eine gute Partie gibt es so einen Charakter. Der Leser trifft erstmals auf ihn, als er sich nicht entscheiden kann, ob er sein Zimmer jetzt oder später verlassen soll, um an einer Party im Erdgeschoss seines Elternhauses teilzunehmen. Seine Geschwister lachen über ihn, sein Vater ist besorgt, dass dieser Sohn nie die Geschäfte der Familie übernehmen wird. Der junge Mann selbst sieht sich gerne als Intellektuellen, der der Welt entsagt und nichts Praktischen tun muss. Als er versucht, Klarheit zu finden, wie weit er sich von der alltäglichen Welt entfernen kann, nimmt er an einer Badezeremonie im Ganges teil. Dort wird er Zeuge einer Massenpanik und muss vom Fluss aus hilflos ansehen, wie hunderte Menschen zu Tode kommen. In dieser Situation weiß er genau, dass er handeln will und was er tun sollte, aber er ist in die Rolle des Zuschauers gebannt. Diese Erfahrung bringt ihn dazu, die Welt anzunehmen und die Familiengeschäfte zu übernehmen.
Ebenfalls in Eine gute Partie geht es um eine junge Frau, deren Mutter einen Ehemann für sie sucht. Ein erster Konflikt entsteht zwischen Mutter und Tochter über Notwendigkeit zu heiraten. Die junge Frau lernt kurz darauf einen jungen Mann kennen, den der Leser als sympathisch erlebt und der auch der jungen Frau gefällt. Er gehört jedoch einer anderen Religionsgemeinschaft an. Diese Information ist für die junge Frau eine Katastrophe. Sie befeuert den Konflikt zwischen Mutter und Tochter und stürzt auch die Tochter in Zweifel, ob sie es ertragen könnte, ihre Familie und die ihres Freundes vor den Kopf zu stoßen. Dass der junge Mann dem Neffen der jungen Frau bei der oben erwähnten Massenpanik das Leben rettet, macht die Entscheidung nicht leichter.
Gefährliche Situationen und Katastrophen können unauffällig daherkommen. Ein falsches Wort, ein Tropfen zu viel, eine Minute zu spät – die Folgen dieser Entscheidungen oder Zufälle wenden eine Handlung zum Schlechteren. Wer bei Spezialeffekten gähnt, kann seinen Lesern durch dezenten, aber gezielten Einsatz von Wendungen ein spannendes Lesererlebnis bereiten.