Wenn Sprachprüfungen anstehen, schreiben die Teilnehmer meiner Deutschkurse beinahe jeden Tag einen Brief. Und ich stelle mir beinahe jeden Tag die Frage, ob diese Briefe im richtigen Leben außerhalb eines Deutschkurses ihren Zweck erfüllen könnten. Das richtige Leben hat andere Regeln als eine standardisierte Sprachprüfung, folglich sehen Briefe und E-Mails dort anders aus als die von den Bewertern erwarteten Briefe.
Auch in Romanen kommen Briefe vor. Auch sie sehen anders aus als Briefe im richtigen Leben, denn diese Briefe sind Teil der Handlung. Sie sollen die Handlung voranbringen, zumindest sollte der Protagonist und/oder der Leser aus ihnen Informationen erhalten.
Briefe in Romanen können schnell wie Fremdkörper wirken. Darum müssen sie auf ihre Funktionen der Informationsvermittlung reduziert werden. Sie sind deutlich kürzer als im richtigen Leben und sie sind präzise formuliert. Das bedeutet natürlich nicht, dass sie dem Leser die Informationen um die Ohren knallen. Sie enthalten gerade so viel Beiwerk, dass sie aussehen wie richtige Briefe und die Leser sie als Briefe erkennen können. Doch hinter dem Beiwerk liegen all die Informationen bereit, die der Leser bekommen soll.
Für den Leser bedeutet das, dass er Briefe als kulturelle Texte erkennen und deuten können muss. Für Autoren bedeutet das, dass auf Basis dieses gemeinsamen Wissens und auf knappem Raum ein Zweck erfüllt werden muss.
- Brief an den Vermieter. In Ihrer Wohnung ist das Türschloss zum Schlafzimmer kaputt. Bitten Sie Ihren Vermieter, das Schloss so schnell wie möglich reparieren zu lassen. Überlegen Sie, was die wahren Gründe für das kaputte Türschloss sind und welche Gründe Sie dem Vermieter nennen wollen. Benötigen Sie Hilfe? Kann der Vermieter Sie Ihnen geben? Kann eine Reparatur die Gründe für Ihre Probleme wirklich beheben? Ist Ihr Brief vielleicht ein (unbewusster) Hilferuf?
- Brief an den Kollegen. Sie sind alleine in Urlaub gefahren und schreiben einen Brief an Ihren Kollegen. Sie mögen den Kollegen sehr und würden gerne eine engere Beziehung zu ihm eingehen. Den Mut zu einem offenen Gespräch hatten Sie bisher nicht. Dieser Brief ist eine Chance dazu. Lassen Sie ihn wissen, was sie im Urlaub getan haben, gleichzeitig deuten Sie an, dass Sie den Kollegen gerne dabei hätten.