Wieken-Verlag Autorenservice Roman,Schreiben,Schreibwerkstatt Die Endlosschleife um das erste Kapitel

Die Endlosschleife um das erste Kapitel

Endlosschleife

Das erste Kapitel ist bei vielen Autor*innen vermutlich der Teil des Manuskripts, der am meisten überarbeitet wurde. Einige verfangen sich in einer Endlosschleife und kehren immer wieder an den Anfang zurück. Es gibt viele gute Gründe, diese ersten Seiten zu verbessern, aber es gibt nur einen optimalen Zeitpunkt: Wenn das Ende erreicht ist.

Gefangen in der Endlosschleife – Die Angst vor der Mitte

Auf den ersten Seiten eines Manuskripts lasten viele Erwartungen: Sie sollen erste Hinweise auf das Thema des Buches geben, wichtige Charaktere einführen, das Interesse der Leser*innen wecken, sie zum Weiterlesen anregen, sie informieren, aber nicht mit zu viel Informationen abschrecken. Und noch mehr. Bei all diesen Erwartungen ist es notwendig, die ersten Seiten sorgfältig zu überarbeiten. Aber einige Autor*innen kehren immer wieder an den Anfang zurück. Sie verändern ihn, in der Hoffnung, ihn ansprechender zu gestalten, oder weil sie Informationen ergänzen oder entfernen wollen. Sie legen die Anfangsseiten ihrer Schreibgruppe vor, sie legen diese Seiten den Mitgliedern eines Schreibkurses vor, sie schicken diese Seiten an eine*n Lektor*in.

Die Arbeit dieser Autor*innen dreht sich um den Anfang. Sie denken viel über ihr Manuskript nach, sie haben große Ansprüche an sich und an das Manuskript, und es ist ihnen bewusst, dass sich Änderungen in der Mitte des Buchs auf den Anfang auswirken. Diese Mitte erreichen sie nicht immer, und oft kommen sie dann nicht über die Mitte hinaus, weil sie an den Anfang zurückkehren.

Diese Autor*innen sind in einer Endlosschleife gefangen, und auch das ist ihnen, tragischerweise, oft bewusst. Wie entkommen sie dieser Schleife, und wie geraten sie nach Möglichkeit gar nicht erst hinein?

Der vermeintlich übersichtliche Anfang

Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, heißt es nicht zu Unrecht. Der Morgen erscheint noch übersichtlich, zumindest geht alles seinen gewohnten Gang. Dann beginnt der Tag und all die ungeplanten Ereignisse bringen Chaos mit sich.

Der Anfang eines Manuskripts ist meistens gut geplant. Alle Charaktere stehen an den Startpositionen, jeder Satz bringt sie ihrem ersten Auftritt näher. Doch mit jedem Satz begeben wir uns von der Planung zur richtigen Handlung. Die Handlung, oder das, was unsere Charaktere daraus machen, entwickelt sich nicht immer so, wie wir es im Kopf oder auf dem Papier festgelegt hatten. Je weiter das Schreiben voranschreitet, und je tiefer wir in die Handlung vordringen und ihre Stränge mit Worten verweben, desto wahrscheinlicher ist ein Abweichen vom ursprünglichen Plan. Desto wahrscheinlicher sind neue Einsichten in Zusammenhänge, in die Psychologie der Charaktere, sogar in Hintergrundinformationen. Je unübersichtlicher all das erscheint, desto größer wird der Wunsch an den Anfang zurückzukehren. Dort, wo alles noch nach Plan ging, soll der Plan an die neuen Verhältnisse angepasst werden.

Der Kampf um die Mitte und das Ende macht den Weg frei zum Anfang

Wenn sich unsere Charaktere durch das Durcheinander der Mitte der Handlung kämpfen, verlieren sie oft den Überblick, bis sie in das Chaos des Höhepunkts stolpern. Erst am Ende gewinnen die Charaktere wieder einen Überblick über ihre Position und die der anderen Charaktere.

Das Ende ist deshalb ein Punkt, an dem auch Autor*innen an den Anfang zurückkehren können. Nachdem sie überprüft haben, ob der Weg der Charaktere durch die Mitte zum Ende nachvollziehbar und spannend ist, besitzen sie erst das notwendige Wissen, die endgültige Version des Anfangs zu schreiben. Selbst wenn auf den ersten Seiten nichts passiert, was einen Hinweis auf die Ereignisse in der Mitte und am Ende gibt, haben die Autor*innen ihre Charaktere jetzt so gut kennengelernt, dass sie sie am Anfang glaubwürdig darstellen können. Auch erst jetzt ist klar, welche Ideen wirklich in das Buch eingeflossen sind und welches Thema von den vielen sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht.

Das Ende ist daher der beste Zeitpunkt, den Anfang des Buchs noch einmal zu überdenken. Die Handlung liegt ausgebreitet da, keine Stränge überdecken sich, keine Schlinge führt immer wieder an den Anfang (es sei denn, das ist gewollt). Die Ordnung ist auch jetzt erst hergestellt.

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