Vor einigen Wochen las ich einen Beitrag im Blog von Alexander Zoltai über das Lesenlernen. Alexander hat die Angewohnheit, seinen Lesern Fragen zu stellen. Seine Frage an jenem Tag war (im weitesten Sinne) „Kann man zu früh zum Lesen gezwungen werden?“
Lesen = Zwang?
Diese Frage hat mich nicht mehr losgelassen, ich denke seitdem öfters darüber nach. Es scheint so, dass in den USA und Kanada Kinder in sehr jungen Jahren an das Lesen herangeführt werden. In mehreren Kommentaren wurde das beklagt. Nach meinem Kenntnisstand, sind die Gehirne der Kinder erst im Alter von fünf bis sieben Jahren so weit entwickelt, dass sie Schriftzeichensysteme entschlüsseln können.
Meine eigene Tochter hat mit knapp fünf Jahren Lesen gelernt, nachdem sie schon ein Jahr lang Buchstaben „malte“. Ich sage gern, es war Selbstverteidigung, ihr Lesen beizubringen, denn sie war in einer ziemlich unausstehlichen Phase. Diesen unausstehlichen Phasen konnte man damals nur mit mehr Input oder mehr Verantwortung begegnen. Lesen schien zu passen, zumal sie es lernen wollte. Beim Eintritt die in erste Klasse war sie in der Lage, Bücher, die im Antolin-Programm der Kinderbuchverlage für Klasse 3 angegeben werden, zu lesen und ausführlich zu besprechen.
Bei meiner Recherche nach geeignetem Unterrichtsmaterial für Englisch stieß ich auf zahlreiche Internetseiten aus den USA und Kanada, auf denen Übungen im Lesen und Schreiben für Kinder im Kindergartenalter angeboten wurden. Für meine neunjährige Tochter mit dem furchtbaren niedersächsischen Englischunterricht war dieses Material sehr geeignet, aber …
Wenn ich die Kommentare zu Alexander Zoltais Post richtig interpretiere, wird Lesekompetenz mit einem mechanischen Entschlüsselungssystem gleichgesetzt. Dahinter steht, wie so oft ein guter Gedanke: kein Kind soll auf dem Weg zum Lernerfolg zurückgelassen werden. Lernen wird sehr eng definiert, in abtestbaren Ergebnissen, in schnell umsetzbaren Fähigkeiten. diese Sicht auf Lernen berücksichtigt nicht die Persönlichkeitsentwicklung und zerstört die Freude am Lesen oder an jeder erworbenen Fähigkeit überhaupt.
Lesen in Deutschland
Ich denke an den fröhlichen Leseunterricht an der Grundschule meiner Tochter, an dem sie trotz ihres viel weiteren Kenntnisstandes gern teilgenommen hat. Gleichzeitig höre ich manchen Kommentar von echten und selbsternannten Bildungsexperten über das Qualifizieren von Kindern und Jugendlichen. Die Stunden an der Grundschule werden gekürzt, angeblich als Vorbereitung auf den Ganztagsunterricht. Der Lernkanon am Gymnasium soll zusammengestrichen, „modernisiert“, werden, die Jugendlichen müssen früher und höher qualifiziert werden. Eine Qualifikation ist für mich ein Führerschein oder die Fähigkeit, ein Computerprogramm zu schreiben. Qualifikation ist nicht Bildung, nur ein kleiner Teil davon, gebunden an eine Kompetenz, nicht an die Person.
Lesen als notwendiges Übel
Den zahlreichen Kindern, die am Ende der vierten Klasse dem Lesen nur eingeschränkt mächtig sind, wäre wohl kaum dadurch geholfen worden, sie früher Lesen lernen zu lassen. Mehr Zeit und Freiraum für das Lesen und den Spaß am Lesen hätte ihnen vielleicht besseren Zugang zu dieser einzigartigen Kompetenz ermöglicht. So aber scheuen sie Bücher und damit alle Unterrichtsbereiche, die das Lesen von Texten verlangen. Schule und Lernen werden zur Qual. Unter Zeitdruck wurden unwillige Leser geformt, gerade in der Lage Gebrauchsanweisungen (miss-)zuverstehen.
Das ist schade. Für mich birgt diese begrenzte Sicht auf Lesen und Lernen Gefahren für unsere Gesellschaft.