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Leselöwen & Co. – Unterforderung oder Hilfe?

 In Jane Friedmans wunderbarem Blog Being human at electric speed  erschien am 27. März 2012 ein Gastartikel von Sanjida O’Connel What is a Literary Novel? In den Kommentaren bemerkte eine Leserin, einen Klassiker, den sie in der Schule gelesen habe (Silas Marner von George Elliot), läsen heutzutage Collegestudenten.

Bücher für Kinder?

Mich erinnerte diese Bemerkung an meine Erfahrungen mit Kinderbüchern, sowohl als Kind als auch jetzt als Mutter. Viele Leserinnen kennen wahrscheinlich noch die Dolly-Serie von Enid Blyton. Wahrscheinlich weniger bekannt ist, dass nur die ersten sechs Bücher der Serie Übersetzungen von Blytons Originalen sind. Die späteren erschienen unter dem Namen Enid Blyton, wurden jedoch von verschiedenen deutschen Autorinnen geschrieben. Als Kind fiel mir auf, dass ab Band 7 die Schrift in den Bänden größer war, bei annähernd gleicher Seitenzahl (ca. 120). Gleichzeitig schien sich etwas an der Sprache verändert zu haben. Heute weiß ich, dass die Sätze kürzer sind, wodurch der Textfluss holpriger wurde. Meine Tochter, die vor einigen Jahren meine alten Ausgaben aus den 1970er Jahren las, bezeichnete die neueren Texte als „weniger anheimelnd“. Auch diesem kritischen Geist missfiel die Vereinfachung von Sprache, Inhalt und Seiten-Layout.

Lese-Lern-Geschichten

Meine Tochter las bereits während des gesamten dritten Kindergartenjahres und war zu Weihnachten nach ihrer Einschulung in der Lage, ihr erstes Buch ganz allein zu lesen (vielen Dank an Julia Böhme und ihre Conni). Sie arbeitete sich in den folgenden Monaten durch meine alten Kinderbücher und den Bestand der Gemeindebücherei.

Zu dieser Zeit schenkte ihr eine Freundin eines der zahlreichen Leselern-Bücher, deren Reihen meist mit Lese- beginnen und mit einem coolen Tier oder als cool empfundenen Personengruppe wie Löwe oder Pirat enden. Das Buch hatte deutlich weniger als hundert Seiten, war in großer Schrift mit entsprechend großen Zeilenabständen gedruckt und wies viele Bilder auf. Mehrere Geschichten teilten sich die wenigen Seiten. Meine Tochter las das Buch zwischen Hausaufgaben und Abendbrot, überreichte es mir dann und fragte „Warum hat sie mir das Buch eigentlich geschenkt?“

Ich stellte mir die gleiche Frage, erklärte ihr aber, was sie natürlich wusste, dass andere Kinder noch nicht so weit waren mit dem Lesen.

Zwei Jahre später, nun in der vierten Klasse, rief vor dem Kindergeburtstag eine Mutter an und fragte, ob so ein Leselernbuch ein gutes Geschenk sei. Mein Mann machte diskret einen anderen Vorschlag.

Gefährliche Leselöwen?

Leselernbücher sollten etwas Tolles sein, und offenkundig finden viele Eltern das gängige Angebot toll. Ich frage mich, ob sie sich an die Bücher ihrer Kindheit in den harten 1970er und 1980er Jahren erinnern können und ob die langen Texte in kleiner Schrift sie sehr verunsichert haben.

Bestimmt ist das Erschließen von Texten in den Leselernbüchern für Anfänger einfacher. Die große Schrift lässt das Auge alle Buchstaben leicht erfassen, der Zeilenabstand verhindert das Abgleiten in die angrenzenden Zeilen. Bilder laden zum Anschauen und Ausruhen ein, und die kurzen Geschichten bieten Leseerfolg nach ein paar Seiten harter Lesearbeit.

Wie lange benötigen Kinder solche aufbereiteten Bücher? Man sollte meinen, Drittklässler müssten 120 Seiten mit zehn Kapiteln bewältigen können. Anscheinend können sie es oft nicht. Wohlgemerkt, nicht wenige dieser Kinder erhalten eine Gymnasialempfehlung, werden also sogar in unserem auf Auslese setzenden Schulsystem zum oberen Leistungsdrittel gezählt.

Manchmal frage ich mich, ob Eltern ihren Kindern so wenig zutrauen, dass sie sie beim Lesen dermaßen unterfordern. Oder die Unterforderung geschieht in guter Absicht, wenn selbst leseungeübte Eltern zu Leselernbüchern für ihren Nachwuchs greifen. Im Ergebnis wächst eine Generation heran, die in ihrer prägsamsten Zeit nie Bücher zum Versenken lesen durfte, eine Generation, für die Texte in genussfertigen Häppchen serviert werden müssen.

Das ist schade. Es ist ein Verlust für die betroffenen Kinder, dessen Auswirkung auf unsere künftige Gesellschaft größer sein dürfte als wir jetzt ahnen.

 

 

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