Papier und Nutzen

 Als ich das Manuskript meines nächsten Buches ausdruckte, überkam mich ein Gefühl des Ungewohnten. In den letzten Wochen und Monaten habe ich wenig mit Papier gearbeitet. Neben meiner Tastatur liegt ein Collegeblock. Wenn ich etwas nebenbei festhalten möchte, schreibe ich es auf den Block. Diese Notiz habe ich so immer vor Augen, bis ich die Information darin bearbeitet habe. Dann streiche ich sie durch.

Auf dieses Kritzeln beschränkte sich mein beruflicher Kontakt mit Papier.

Ein Ausdruck auf Papier?

Ich fand es wie gesagt etwas seltsam, als ich mich beobachtete, wie ich die ausgedruckten Seiten vom Drucker nahm, lochte und in einen Ordner legte. Das waren doch ungewohnte Tätigkeiten geworden. Vor ein oder zwei Jahren hätte ich darüber nicht nachgedacht.

Es hat sich offenbar etwas geändert. Lesen und Schreiben geschieht bei mir jetzt unter anderen Bedingungen. Zur Zeit lese ich sehr viel, aber hauptsächlich im Rahmen meiner Arbeit und auf einem Monitor. Ich schreibe auch sehr viel, weitgehend für meine Arbeit und immer auf der Tastatur.

Auch jenes Manuskript habe ich schon mehrfach auf dem Monitor gelesen und bearbeitet. Dass ich es trotzdem ausgedruckt habe, ist einem einfachen Grund geschuldet. Ich suche einen Perspektivwechsel.

Anderes Medium, anderes Lesen

Ein Manuskript kritisch zu lesen erfordert innere Distanz. Wir alle kennen das Problem, dass es uns viel leichter fällt, die Fehler anderer zu erkennen als unsere eigenen. Das gilt für Schreibfehler, vielmehr aber noch für den formalen Aufbau und die innere Struktur unserer Texte.

Nicht grundlos werden Manuskripte in Verlagen lektoriert, und auch die freiberuflich arbeitenden Lektorinnen haben eine äußerst wichtige Funktion. Wer schreibt, verliert die Distanz zum Text. Ein nicht zu unterschätzender Anteil der Handlung ereignet sich ausschließlich im Kopf des Autors und kommt nie auf Papier, wird aber immer mitgedacht. Aus dieser Mehrschichtigkeit können Ungenauigkeiten erwachsen. Da ist einerseits die niedergeschriebene Handlung, in der Dinge geschehen und Ereignisse vorangetrieben werden, in der Charaktere auftreten und sich weiterentwickeln. Andererseits gibt es unpubliziertes und oft nur unbewusst vorhandenes „Zusatzmaterial“, das bis hin zu Stimmungen und Gefühlen reichen kann, die der Autor für einzelne Charaktere empfindet, wenn er seine Kreaturen durch die Handlung führt.

Fremde Augen lesen mehr. Deshalb sollte jedes Manuskript von mehreren Personen gegengelesen werden, von ehrlichen  Kritikern  und nicht von guten Freunden, die keinesfalls verletzen wollen.

Aber auch die eigenen Augen können lernen, wie fremde Augen zu lesen. Zeitlicher Abstand zum Schreiben ist sinnvoll. Wenn das Manuskript fertig geschrieben ist, man den Schlusspunkt gesetzt hat, dann darf man es natürlich noch einmal durchgehen. Aber anschließend sollte man sich ein paar Tage Auszeit gönnen und gänzlich andere Sachen machen. Lesen ist in dieser Zeit des Abstandgewinnens vorsichtig anzugehen. Oft muss man nämlich feststellen, dass ein Buch, welches dem eigenen eben verfassten ähnlich ist, mit dem Manuskript im Kopf interagiert. Das behindert den Genuss bei der Lektüre und führt zu Verunsicherungen beim anschlieߟenden Korrekturlesen des eigenen Textes. Besser wählt man ein anderes Genre oder liest in einer anderen Sprache.

Ein Wechsel des Lesemediums verschafft auch Distanz. Die Schrift erscheint nicht mehr auf dem Monitor sondern auf dem Blatt Papier. Man hält dieses Papier anders in der Hand, nimmt eine andere Haltung an. Auf Papier gedruckt können Wörter anders erscheinen: größer, kleiner, weniger passend.

So umständlich es anschließend ist, die Korrekturen vom Blatt Papier in die digitale Manuskriptversion einzuarbeiten, es ist ein lohnender Vorgang. In diesem zugegebenermaßen oft frustrierend langweiligen Arbeitsgang überdenkt man nämlich auch die Korrekturen noch einmal und – korrigiert die Korrekturen eventuell.

Papier, Distanz und Nutzen

Ich gebe zu, dass in einem so individuellen Arbeitsprozess wie dem Schreiben, jeder Autor eigene Methoden entwickeln muss. Aber aus meiner Erfahrung heraus empfehle ich jedem, wenigstens einen Korrekturgang auf Papier vorzunehmen. Das andere Lesemedium ermöglicht innere Entfernung zum eigenen Text.

Natürlich funktioniert das auch umgekehrt. Ein handschriftlicher Text muss heute digitalisiert und anschließend auf Eingabefehler kontrolliert werden. Dieses Überlesen sollte jedoch keinesfalls mit kritischem Lesen gleichgesetzt werden. Nach der Eingabe eines ursprünglich handschriftlichen Textes muss erst die Rechtschreibung korrigiert und dann an Struktur und Handlung gearbeitet werden. Oft werden durch dieses andere Medium auch in zuvor schon durchgearbeiteten Texten Verbesserungsmöglichkeiten offenbar.

Der Nutzen liegt also weniger im Medium selbst als in der Distanz, die der Wechsel des Lesemediums mit sich bringt. Die Reihenfolge bleibt jedem Autor überlassen, wichtig ist nur, dass er den Mut aufbringt, zum Zwecke der Bearbeitung Distanz zum eigenen Text zu nehmen.

 

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