Lesen ist ein wunderbarer Vorgang. Wir sehen Zeichen und verstehen, was sie uns mitteilen. Dieser Vorgang ist so sehr automatisiert, dass wir uns nicht dagegen wehren können zu lesen, sobald wir Zeichen als Schriftzeichen erkannt haben.
Wenn Sie das nicht glauben, zählen Sie einmal alle e in dem Spruch unten, ohne die Wörter zu lesen:
Rosen, Tulpen, Nelken, alle Blumen welken. Nur die eine nicht, die heißt Vergissmeinnicht.
Wahrscheinlich hatten Sie größte Mühe, sich nur auf die Zeichen zu konzentrieren und die Wörter auszublenden. Möglicherweise haben Sie außerdem bemerkt, wie gewissermaßen im Hintergrund des Zählens Bilder und Vorstellungen entstanden. Vielleicht haben Sie Bilder der im Text erwähnten Blumen gesehen. Vielleicht haben Sie an Ihr altes Poesiealbum gedacht oder gesehen, wie Sie als Kind in ein Poesiealbum schrieben. Vielleicht ist Ihnen sogar eine Freundin oder ein Freund von früher eingefallen.
Wenn Sie solche Erlebnisse bei dem Versuch, Buchstaben zu zählen ohne den Text zu lesen, hatten, wie kommt es zu derartigen Erfahrungen? Die Erklärung liegt in der Art und Weise, wie wir uns Bedeutungen merken. Das Wort Rose ist mit einem Bild von einer Rose verknüpft. Zu dem Bild gehören Gefühle und Erlebnisse, die wir selbst mit Rosen hatten. Zu dem Bild gehören jedoch auch Vorstellungen von Rosen, die zu unserer Kultur gehören.
Auch wenn Sie nicht der Ansicht sein sollten, dass die Rose die Königin der Blumen ist, wissen Sie, dass viele Menschen dies meinen. Auch wenn Sie selbst Rosenduft unangenehm finden, wissen Sie, dass der Duft der Rose allgemein geschätzt wird. Vielleicht freuen Sie sich mehr über einen Strauß Gänseblümchen, aber Sie wissen, dass rote Rosen als Zeichen der Liebe verschenkt werden. Und wenn Sie sich fragen, weshalb die Rose eine Königin sein soll, können Sie sich diese Metapher aus Ihrem Weltwissen erklären. Sie brauchen kein Geschichtsbuch zu lesen, ein Blick in die Lesemappen im Wartezimmer zeigt Ihnen, dass Königinnen in unserer Gesellschaft nach wie vor als etwas Besonderes wahrgenommen und dargestellt werden.
Das sind sehr viele Informationen zu einem Wort, Rose in unserem Beispiel. Die allermeisten dieser Informationen sind uns nicht bewusst. Trotzdem tragen sie mit dazu bei, dass wir Wörter verstehen.
Was passiert nun im Kopf Ihrer Leser, wenn sie Ihr Buch aufschlagen? Sie beginnen zu lesen und sofort kommen die Assoziationen, insbesondere die Bilder. Viele Leser berichten von einer Art Film in ihrem Kopf während des Lesens. Das Lesen einer Geschichte ist ein fortwährender Abgleich der gelesenen Worte mit den Vorerfahrungen und dem kulturellen Wissen.
Ein Text steht solange für die Bedeutungen, die Sie mit den gewählten Worten verbinden, bis ein Leser ihn tatsächlich liest. In diesem Moment beginnt der Leser damit, Ihren Worten die für den Leser relevante Bedeutung zu unterlegen. Daher streiten Leser untereinander um die Bedeutung eines Buches, darum stellen Autoren immer wieder fest, dass Leser Bedeutungen in den Text hineinlesen, die sie gar nicht aufgeschrieben haben.
In gewisser Weise machen sich Leser Geschichten zu eigen. Nur so können sie sie verstehen.
Dieser Post ist Teil meines Experiments, ein Sachbuch mit einem horizontalen Inhaltsverzeichnis zu schreiben. Weitere Posts zu diesem Experiment finden Sie unter dem Schlagwort „horizontales Inhaltsverzeichnis“. Wie ich mir das Experiment vorstelle, können Sie hier nachlesen. Das Inhaltsverzeichnis finden Sie hier.
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