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Erzählperspektive: Ich-Erzähler

(c) Ole Sevecke

(c) Ole Sevecke

Die Handlung eines Buches erleben wir durch die Augen eines Erzählers. Beim Lesen (und auch beim Schreiben)  stellen sich folgende Fragen:

  • Erleben wir die Geschichte durch einen Charakter oder durch einen unabhängigen Erzähler?
  • Durch wessen Augen sehen wir?
  • Wessen Gedanken erfahren wir?
  • Wie distanziert ist der Erzähler von der Handlung?

Lesen Sie über weitere Überlegungen zur Erzählperspektive und ihre Auswirkungen in meinem Post Erzählperspektive: Durch welche Augen lese ich.

Wer ist der Ich-Erzähler?

Der Ich-Erzähler ist meistens eine Person aus dem Buch, oft sogar der Protagonist oder die Protagonistin, manchmal aber auch ein mehr oder weniger inaktiver Beobachter. „Ich“ ist der Augenzeuge aller Ereignisse.

Der Leser erlebt die Ereignisse des Buchs, wie „Ich“ sie erlebt. Wenn „Ich“ als Chirurgin eine Operation durchführt, sieht er die Instrumente, die Schnitte, die Wunde, hört er die Bemerkungen des Operationsteams und folgt den Überlegungen von „Ich“.

Was erfährt der Leser?

In einer Erzählung aus der Perspektive eines Ich-Erzählers besteht keine Barriere zwischen dem Leser und dem Erzähler. Der Leser hört die Stimme des Ich-Erzählers und erfährt seine ungefilterten Gedanken. Der Leser wird so zu einem Vertrauten des Ich-Erzählers. Dies kann herbeigeführt werden, indem der Ich-Erzähler den Leser direkt anspricht, beispielsweise in Form einer Frage nach der Meinung des Lesers. Solche Fragen können rhetorisch sein, durch die Nähe zwischen Leser und Ich-Erzähler fällt es dem Leser jedoch schwer, so eine Frage zu übergehen.

Der Ich-Erzähler kann den Leser als eine bestimmte Person ansprechen. Der Leser wird so zu einem (stummen) Charakter in der Handlung. Vorstellbar wäre der Leser beispielsweise als Polizist, der ein Geständnis hört, als Psychoanalytiker oder Mitreisender auf einer langweiligen Bahnfahrt.

Vorteile und Nachteile des Ich-Erzählers

Vor- und Nachteile einer Erzählperspektive können auch als Herausforderungen an Autor und Leser verstanden werden.

Vorteile

Ein Vorteil dieser Erzählperspektive ist ohne Zweifel die Nähe von Leser und Erzähler. Der Leser ist so gezwungen, die Welt aus den Augen einer anderen Person zu sehen. Mit deren Erlebnissen und Gedanken muss er sich auseinandersetzen. Der Leser ist durch die direkte Beziehung zu einem Charakter eng mit der Handlung verbunden.

Nachteile

Die Nachteile bestehen einerseits auf Seiten des Autors. Die Handlung ist an den Körper des Ich-Erzählers gebunden. Es kann nur beschrieben werden, was der Ich-Erzähler erlebt. Dazu muss er körperlich an einem bestimmten Ort anwesend sein.

Der Leser nimmt jedoch auch Nachteile in Kauf. Schließlich schränken verschiedene Faktoren den Ich-Erzähler ein. Dies hat Folgen für seine Objektivität. Intelligenz, Bildungsstand, Alter, körperliche und psychische Gesundheit, politische Einstellung, religiöse Prägung, dies sind nur einige Faktoren, die die Wahrnehmung des Ich-Erzählers beeinflussen. Ein erwachsener Ich-Erzähler erlebt die Handlung anders als ein Kind, ein blinder Ich-Erzähler anders als ein paranoider. Der Leser muss abschätzen, wie vertrauenswürdig die Wahrnehmungen und Überlegungen eines Ich-Erzählers sind.

Andere Formen des Ich-Erzählers

Um den engen Blickwinkel eines einzelnen Ich-Erzählers zu erweitern, können mehrere Ich-Erzähler nebeneinander erzählen. Der Leser erlebt so beispielsweise den Ablauf eines Unfalls aus der Sicht der Autofahrerin, des Unfallopfers, einer Angehörigen des Opfers und einer Ersthelferin.

Briefromane oder E-Mail-Romane verwenden auch zwei oder mehrere Ich-Erzähler, die miteinander kommunizieren.

Gelegentlich bedient sich der Ich-Erzähler des Pluralis Majestatis. Ähnlich wie ein Monarch spricht er von sich im Plural, obwohl er nur eine Person ist.

 

 

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