Wenn ich an einem Roman arbeite, sehe ich Bilder in meinem Kopf. Wenn Leser einen Roman lesen, sehen sie Bilder in ihrem Kopf. Mein Ziel als Autorin muss es also sein, meine Bilder, wenigstens in der Essenz, in den Kopf der Leser zu übertragen. Meine einzige Möglichkeit derzeit, technische Neuerungen der Zukunft spielen noch keine Rolle, sind Worte. Wie aber wandle ich meine Bilder in Worte um, die meine Leser nicht nur wieder in Bilder umwandeln können, sondern in Bilder, die ihnen zeigen, was ich ihnen zeigen will?
Vermutlich existieren auch für diese Aufgabe verschiedene Lösungswege. Ich versuche, den Leser zu leiten, dabei gehe ich vom Allgemeinen zum Besonderen.
Die Situation
Nehmen wir an, meine Protagonistin steht auf der Straße sieht zu dem Haus, in dem sie Spuren eines Verbrechens finden wird. Zu dem Zeitpunkt ist die Protagonistin eingeführt, und der Leser hat auch schon die Begleiterin der Protagonistin kennengelernt. Der Ort ist jedoch dem Leser unbekannt, und auch die Protagonistin befindet sich zum ersten Mal dort.
Was muss ich wissen, um mir ein Bild machen zu können?
Ich benötige eine Vorstellung von dem Ort, der Jahreszeit, der Tageszeit, vom Wetter, von den Charakteren. Ich stelle mir eine Landstraße vor, einsam, Häuser in großem Abstand. Ich stelle mir vor, meine Protagonistin geht mit ihrer Begleiterin vom Nachbarhaus unter Bäumen zur Auffahrt des Hauses. Dort scheint die Sonne. Es ist ein altes Haus aus roten Ziegeln, und weil die Handlung in Ostfriesland spielt, sehe ich ein Fehnhaus. Ich sehe die alten Eichen und die Krähenkolonie. Ich weiß, meine Protagonistin ist Ende zwanzig und relativ fit. Ihre Begleiterin dagegen wurde in der Szene als Pensionärin eingeführt, klar im Kopf, aber wie sich jetzt zeigt, nicht gut zu Fuß.
(Haben Sie schon Bilder im Kopf?)
Was weiß der Leser schon, um meine Worte zu verstehen?
Der Leser weiß von mir bereits, dass es ein Frühlingsnachmittag ist, die Pfützen vom Regenschauer in der letzten Szene trocknen im Sonnenlicht. Also ist es vermutlich nicht kalt. Der Leser weiß, dass das Haus an einer Landstraße liegt. In der vorhergehenden Szene haben zwei ältere Damen der Protagonistin erklärt, wie die Häuser der kleinen Siedlung an der Straße liegen. Im Laufe früherer Szenen hat die Protagonistin vom Verschwinden eines alten Mannes aus ihrem Bekanntenkreis erfahren. Nun machen sich zwei ältere Damen Sorgen um ihre Nachbarin, die seit Tagen nicht mehr gesehen wurde. Die Protagonistin ist von den andauernden Nachfragen genervt, hat sich aber entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie geht davon aus, auch das weiß der Leser bereits, dass die verschwundene Dame ihren neugierigen Nachbarinnen aus dem Weg gehen möchte. Der Leser kennt die Protagonistin und hat auch ihre ältere Begleiterin am Teetisch sitzend getroffen.
Was muss ich dem Leser mitteilen, damit er sich ein Bild machen kann?
Der Leser weiß nicht, ob die ältere Begleiterin auch körperlich so fit ist, wie sie sich im Gespräch in der vorhergehenden Szene zeigte. Ich zeige, wie langsam sie auf dem kurzen Weg von Haus zu Haus vorankommt. Dies ist später bedeutsam, weil die ältere Dame natürlich nur absolut notwendige Strecken geht und mache Dinge, die sie sicherlich gerne gewusst hätte, vor dieser Szene nicht herausgefunden hat.
Landstraßen kennt der Leser vermutlich. Ich betone die Stille dieser Straße. Zufällige Zeugen, sollten welche notwendig sein, kann der Leser dort nicht erwarten.
Krähen kennen die meisten Leser, schließlich sieht man sie sogar in Städten. Krähenkolonien sind dagegen weniger bekannt. Ich beschreibe sie, als meine Protagonistin und ihre Begleiterin unter den Eichen zum Haus gehen. Dabei erwähne ich die weißen Flecken am Boden, das aufgeregte Fliegen der Vögel und ihr Geschrei.
Rote Ziegelhäuser sind Lesern normalerweise bekannt. Viele wissen jedoch nicht, wie ein Fehnhaus aussieht. Wenn meine Protagonistin zur Haustür geht, schließlich um das Haus geht und es von hinten betrachtet, nenne ich typische Merkmale eines solchen ostfriesischen Hauses und Besonderheiten dieses Hauses, beispielsweise bröckelige Ziegel. Ich erwähne den vergilbten Kunststoff des Klingelknopfes und die toten Fliegen in den Netzgardinen, die die Protagonistin sieht, als sie versucht, durch ein Fenster in das Haus zu spähen. Beim Lesen des Namensschilds lasse ich meine Protagonistin erkennen, dass die älteren Damen den Namen falsch ausgesprochen haben. Damit haben sie der Protagonistin unterschlagen, dass die verschwundene Nachbarin eine Amerikanerin ist.
Zusammenfassung der Szene
An einem sonnigen Frühlingsnachmittag nach einem Schauer geht Christa Hemmen (Ende Zwanzig und Protagonistin) mit einer älteren Dame (Frau Finke) zum Haus einer Nachbarin und Mieterin von Frau Finke. Die Nachbarin Frau Braun wurde seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Langsam geht Christa mit Frau Finke am Arm unter der Krähenkolonie zu dem alten Fehnhaus, in dem Frau Braun wohnt. Laut Klingelschild heißt sie Brown. Als niemand auf das Klingeln öffnet, setzt sich Frau Finke auf eine Bank an der Hauswand, während Christa um das Haus herumgeht. Sie versucht, durch ein Fenster zu sehen, entdeckt aber nur tote Fliegen in den Gardinen. Hinter dem Haus hängen Handtücher an der Wäscheleine. Sie hängen offenbar so lange draußen, dass sie Schimmelflecken aufweisen.
Die Szene aus dem Manuskript von „Das Nemesis-Projekt“ (Arbeitstitel)
Auf der Straße wirkte sie weniger flott als im Hause neben Frau Tjaden. Mit ihr am Arm kam Christa nur langsam voran. Sie bedauerte, Frau Finke für die wenigen Meter nicht einfach in ihr Auto gesetzt zu haben. Bei dem Tempo hatte sie immerhin Muße, sich umzusehen. Die kleine Siedlung schien tatsächlich nur aus vier Häusern zu bestehen. Frau Tjadens Haus auf der rechten Straßenseite war das erste Haus. Es stand etwa fünfhundert Meter von der Einmündung in die Backemoorer Straße entfernt hinter einem trockengefallenen Graben, über den eine Brücke zur Haustür führte. Ein paar Meter weiter gab es eine weitere Überwegung für Fahrzeuge, jedoch war dort kein Auto zu sehen. Dieser Überwegung gegenüber befand sich Frau Finkes Haus. An ihrer Seite gab es keinen Graben, doch die hohen Eichen und Birken, die den Asphalt den ganzen Tag über verdunkelten, wichen zurück und ließen Platz für ein vermoostes Stück Rasen und eine ebenso mit Moos bedeckte Einfahrt. Ein Kleinwagen stand nahe der Haustür.
Direkt neben dem Finke-Grundstück machte die Straße einen Knick. Hinter der Biegung gab es keine Bäume mehr. Sonnenlicht fiel auf den Asphalt und trocknete die Pfützen des Schauers. Das Haus von Frau Finkes Nichte sah Christa mehr als fünfzig Meter weiter auf der rechten Seite. Direkt hinter der Kurve stand links ein rostiges Tor weit offen. Daneben befand sich ein nicht sehr vertrauenserweckender Carport mit einem Auto darunter. Dessen Farbe war unter dem Grüngelb der Pollen kaum auszumachen. Von der Straße her stieg der Geesthügel zum Haus hin an. Frau Finke schnaufte. Über ihnen schimpfte eine Krähenkolonie. Das tiefe „Gah, gah“ der Vögel unterlegte den Wind mit dem einzigen Geräusch im Umkreis.
„Ich will Ihnen reinen Wein einschenken, Kindchen. Ich mache mir schon Sorgen um die Frau. Aber vor allem möchte ich nicht, dass irgendjemand behauptet, ich hätte in ihren Sachen geschnüffelt. Das habe ich nicht nötig. Wenn Frau Braun wegfährt und mich bittet, nach dem Rechten zu sehen, mache ich das. Aber so … Die Leute reden über alleinstehende Damen. Sie soll nicht denken, ich wollte ihren Lebenswandel kontrollieren.“
Während sie sprach, war Frau Finke stehengeblieben und hatte in ihrer Handtasche gewühlt. Nun reichte sie Christa einen altmodischen Schlüssel.
„Die Frau Braun lebt hier ganz zurückgezogen. Manchmal fährt sie ein paar Tage weg. Sie sagt nicht wohin. Ich frag auch nicht. Besuch hat sie nie. Nur einmal vor zwei Jahren oder so war mal ein junger Mann hier und hat herumgebrüllt. Sie hat mir nachher gesagt, der wäre verrückt und ich sollte die Polizei rufen, wenn er zu mir rüberkommt und mich belästigt. Wer weiß, wo sie den aufgelesen hatte. Der ist aber auch nicht wiedergekommen.“
Christa nahm den Schlüssel. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass Frau Finke bei anderer Gelegenheit in dem Haus gewesen und dafür zurechtgewiesen worden war. Alleinstehende Damen, Christa vermutete, dass sie das in Frau Finkes Augen auch war, mochten keine Schnüffelei in ihren Schubladen. Wer freiwillig in dieser Gegend wohnte, legte keinen Wert auf zu engen Kontakt mit den Nachbarn.
Der Schlüssel war schwer und sah aus, als wäre er schon häufiger auf Steine gefallen. Christa hoffte, dass der Schlüsselbart intakt geblieben wäre.
„Zuerst klingeln wir“, bestimmte sie und drückte auf einen vergilbten Kunststoffknopf der Klingel. Auf dem trüben Messingschild darüber stand M. BUSKER BROWN. Die Damen Tjaden und Finke hatten eine Britin oder Amerikanerin sprachlich naturalisiert. Im Haus läutete eine Glocke. Nach einer Weile versuchte Christa es ein zweites Mal, dann ein drittes. Mit jedem Klingeln wurde ihr unbehaglicher zumute.
„Da scheint wirklich niemand zu sein, Frau Finke.“
„Das sage ich doch.“
Christa hob die Klappe des Briefkastens, wobei sie eine Spinne aufschreckte. Im Inneren machte sie einige gestauchte Umsonstzeitungen aus. Offensichtlich musste ein Austräger bis in diesen Weiler fahren, um Zeitungen zu verteilen, die niemand lesen wollte. Sie ließ die Klappe fallen und trat ein paar Schritte zurück. Typisch für die Fehnhäuser der Region befand sich die Haustür an der Seite in einem Anbau. Einige der roten Ziegel bröckelten wie schlecht gepflegte Zähne.
„Gibt es noch einen anderen Eingang, Frau Finke?“
„Ja, auf der anderen Seite. Gehen Sie selbst nachsehen, Kindchen. Ich bin zu langsam für Sie. Ich warte auf der Bank.“
Mit diesen Worten ließ sich Frau Finke auf eine Bank an der Vorderseite des Hauses fallen. Unter ihrem Gewicht knarrte das alte Holz drohend.
Insgeheim erleichtert machte sich Christa auf die Suche nach der zweiten Tür. An der Vorderfront des Hauses gab es zwei Fenster, unter dem einen saß nun Frau Finke. Netzgardinen verbargen das Innere. Eine tote Fliege hing in den weißen Falten. Christa sah an der Hauswand hoch. Im Giebel darüber befand sich nur ein winziges Fenster. An der Längsseite gab es drei Fenster und zusätzlich zwei neuere Fenster im Dach. Krähen stoben vor ihr auf. An der Rückseite des Hauses setzte sich die Verlängerung des seitlich angesetzten Flurs drei Meter über die Grundfläche des Hauses fort. Die Ziegel hatten eine andere Farbe, als ob die Verlängerung zu einem späteren Zeitpunkt als das Haus gebaut worden wäre. Die Holztür war abgeschlossen, durch das Fenster sah Christa eine Waschmaschine. An der Wäscheleine wehten graugesprenkelte Handtücher. Christa kehrte zurück zu Frau Finke.
„Ich fürchte, Sie haben Recht. Hier stimmt etwas nicht.“