Eine Bekannte erzählte mir folgende Geschichte: Ein junger Flüchtling hat erfolgreich seinen Integrationskurs bestanden und ein Praktikum in seinem ursprünglichen Berufsfeld absolviert. Seine Deutschkenntnisse reichen aus, um sich im Alltag zu verständigen. Das zuständige Jobcenter übernimmt die Kosten für die schulische Ausbildung in seinem Beruf und die Schule stuft ihn, aufgrund seiner Kenntnisse aus der ursprünglichen Ausbildung, in das dritte von sechs Semestern ein. Der junge Mann besucht die Lehrveranstaltungen und versteht so gut wie nichts. Die Lehrenden fühlen sich überfordert, ihm zu helfen. Er wendet sich an eine deutsche Kollegin, die er aus dem Praktikum kennt. Die möchte helfen, weiß aber nicht, wo sie anfangen soll.
In der Globalskala der Beschreibung von Sprachkenntnissen nach dem gemeinsamen europäischen Referenzrahmen heißt es über die Kompetenzen nach dem deutschen Integrationskurs: „Kann die Hauptpunkte verstehen, wenn klare Standardsprache verwendet wird und wenn es um vertraute Dinge aus Arbeit, Schule, Freizeit usw. geht.“ Nun kann man davon ausgehen, dass der Mann über praktische Kompetenzen in seinem Beruf verfügt und durch sein Praktikum erste Kenntnisse über die Arbeit in einem deutschen Betrieb gewonnen hat. Wo können die Ursachen für seine Verständnisprobleme liegen?
Und – angesichts der Ausrichtung dieses Blogs auf Autoren – was zeigen uns die Erfahrungen des Mannes und seiner „Lehrerin“ über die deutsche Sprache?
Die folgenden Überlegungen beruhen auf dem Gespräch mit der Frau, die den Mann beim Lernen unterstützt, nicht aus einem Gespräch mit ihm: In den Lehrwerken stehen zahlreiche medizinische Fachbegriffe. Die übersetzt der Mann und lernt sie auswendig. Er erkennt sie in anderen Texten und Gesprächen wieder. Aber er kann sie nicht anwenden. Wenn er mit seiner freiwilligen Lehrerin über den Fachtexten sitzt, bittet er um Erklärungen für ganz andere Wörter wie außerdem, Bestimmung, deshalb …
Als ich diesen Bericht hörte, musste ich an einen Aufsatz denken, den ich während meines Studiums gelesen habe. Es ging um die Vermittlung von fachsprachlichen Kenntnissen im Schulunterricht von Migrantenkindern. (Die Quelle kann ich jetzt nicht mehr nennen.) In der dem Aufsatz zugrundeliegenden Studie stellte sich heraus, dass viele Kinder nicht an der eigentlichen Fachsprache, die im Unterricht mit allen Schülern erarbeitet wurde, scheiterten, sondern an Wörtern wie abschreiben, Tageslichtprojektor, Tabelle, Schnellhefter.
Fachsprache fängt also auf einem sehr viel allgemeineren Niveau an, lange bevor das Vokabular und die besonderen Strukturen des jeweiligen Fachbereichs Verwendung finden. Verständnisprobleme treten auch bei Muttersprachlern auf. In einer Maßnahme zur beruflichen Integration Lernbehinderter mussten wir die Texte aus der Berufsschule auf Wortebene, Satzebene und Inhaltsebene besprechen, bevor die Hausaufgaben zu den Texten angefertigt werden konnten. Die neunzig Minuten Fachunterricht in der Berufsschule wurden so oft noch einmal investiert, um den Text wirklich zu verstehen. Damit kommen wir unweigerlich zur Zielgruppe unserer Texte. Was können wir bei Lesern unserer Zielgruppe sprachlich voraussetzen? Ich fürchte, da stehen wir immer vor einem Dilemma.
Wer für Kinder schreibt, schreibt anders als für Erwachsene. Je nach Alter der Kinder, können unterschiedliche Interessen, Themen und Wörter und Satzkonstruktionen vorausgesetzt werden. Aber auch da gibt es Diskrepanzen. Eine Kinderbuchautorin erzählte mir, eine Mutter kritisierte das für etwa Neunjährige geschriebene Buch als zu einfach, eine andere Mutter fand es für ihr elfjähriges Kind zu schwer.
Sachbuchautoren geben oft klar an, für welchen Kenntnisstand sie ein Thema bearbeiten. Sie setzen voraus, dass bestimmte Fachworte bekannt und gewisse Grundlagen vorhanden sind. Wie Fachbuchautoren setzen sie voraus, dass die Leser über ein allgemeinsprachliches Niveau verfügen. Was das Niveau konkret beinhaltet, ist nirgendwo beschrieben.
Fachbücher für Schule und Ausbildung können vielleicht noch am ehesten diese auseinanderklaffenden Sprachniveaus berücksichtigen, etwa durch gestaffeltes Übungsmaterial. Sachbuchautoren und Journalisten stehen vor dem Dilemma, wie viel Inhalt sie einer einfachen Sprache opfern (ohne wissen zu können, wie gut der entstandene Text wirklich verstanden wird). Belletristikautoren verwenden Sprache nicht nur zur Vermittlung einer Handlung. Sie spielen mit der Sprache, nuancieren und charakterisieren mit Wörtern und Strukturen, um Ideen zu vermitteln, die jedem Leser nützlich sein könnten.
Sehen Sie einen Ausweg aus dem Dilemma?