Wir haben alle eine mehr oder weniger klare Vorstellung, wie unsere Charaktere aussehen. Einige Autoren durchsuchen solange Google Bilder, bis sie die richtigen Gesichter gefunden haben. Das ist ein kleiner Trick, und er ist legitim, wenn er den Autoren hilft. Aber wir alle sollten uns über eine Sache im Klaren sein: Die Leser werden niemals das Bild eines Charakters in ihrem Kopf formen, das wir mit uns herumtragen. Niemals. Was bedeutet das für mich, wenn ich meine Charaktere einführe?
Zunächst ist diese Tatsache eine große Erleichterung. Wenn die Leser sich sowieso ihr eigenes Bild vom Äußeren eines Charakters machen, brauche ich ihn nicht vom Scheitel bis zu den Zehennägeln zu beschreiben. Ich kann mich auf Wichtiges konzentrieren und das den Lesern nach und nach mitteilen, damit sie an ihrem Bild arbeiten können.
Es stellt sich natürlich Frage, was die wichtigsten Informationen über einen Charakter sind. Geschlecht, Alter, Name – vielleicht. Diese drei Informationen helfen Lesern, dem Charakter eine erste Form zu geben. Alles weitere kann ich dem Leser zeigen und es ihm überlassen, was er daraus macht. Wenn mein Charakter morgens in die Unterhose vom Vortag schlüpft, weil die noch gut aussieht, sagt das ebenso viel wie ein farblich koordiniertes Ensemble von Kleidungsstücken auf einem Bügel – Montag: hellblaues Hemd zu marineblauer Hose und marineblauen Socken, Dienstag: beigefarbenes Hemd zu hellbraunem Rock, Mittwoch: …
Leser wollen Charaktere in Aktion sehen. Zeige ich den Charakter, wie er Zeuge eines Unfalls wird und an einem Verletzten achtlos vorbeigeht, ziehen Leser ihre Schlüsse über den Charakter. Diese Schlüsse kann ich konterkarieren, wenn ich den Charakter hinter der nächsten Straßenecke zusammenbrechen lasse, weil der Anblick des Unfallopfers Erinnerungen weckte. Die Ereignisse, die den Erinnerungen zugrunde liegen, spielen wahrscheinlich eine Rolle für die weitere Handlung. Der Leser verfolgt den Charakter nun mit Vorstellungen. Mit diesen Vorstellungen darf ich spielen, unter der Voraussetzung, dass ich den Charakter nichts tun lasse, was auf Basis des Wissens des Lesers absolut unglaubwürdig ist.