Ursprünglich wollte ich über Sachtexte schreiben, bis mir auffiel, dass Romanautoren das gleiche Problem haben: Auf ihnen lastet der Fluch des Wissens. Dieser Fluch macht es ihnen oft schwer, eine Szene zu schreiben oder Charaktere darzustellen. In ihrem eigenen Kopf ist zu viel Wissen über die Hintergrundgeschichte, über das Thema oder die Charaktere und ihre Beziehungen untereinander. Dieses Wissen verhindert, dass Autoren ihren Lesern genau die Informationen geben, die sie benötigen.
Der Fluch des Wissens betrifft alle Autoren
Beinahe jeder Autor kann von diesem Fluch befallen werden. Lastet er auf Sachbuchautoren, schimpfen Leser oft über eine zu komplizierte Sprache, zu viele Fachwörter oder eine zu abstrakte Herangehensweise an eine Fragestellung. Sachbuchautoren wissen selbstverständlich viel über ihr Thema. Ihre Leser wählen ein Sachbuch, weil sie darin Antworten auf ungeklärte Fragen suchen. Leser von Sachbüchern haben oft klare Vorstellungen, was sie wissen möchten. Ihre Sicht auf ein Thema kann sich stark vom Expertenblick auf dasselbe Thema unterscheiden. Sachbuchautoren sollten unbedingt herausfinden, was für ihre Leser relevant ist, ehe sie mit dem Planen ihres Buchs beginnen.
Für Sachbuchautoren ist die Sache mit dem Fluch nachvollziehbar. Aber für Romanautoren …?
Auch Romanautoren recherchieren oft mehrere Monate, ehe sie mit dem Schreiben beginnen. Sie häufen eine Unmenge Wissen an, das sie natürlich gerne an die Leser weitergeben wollen. Einige Romanautoren bringen aus ihrer Ausbildung, dem Studium, ihrer Arbeit oder ihrem Hobby großes Spezialwissen mit. Und dann sind da die Autoren von Serien, die von Folge zu Folge Tatsachen über die Charaktere geschaffen haben. Alle diese Autoren stehen vor der Herausforderung, ihr Wissen wohl dosiert in die Szenen fließen zu lassen.
Was bewirkt der Fluch des Wissens in einem Roman?
Nehmen wir an, ein Autor hat eine Fantasy-Welt geschaffen. Vieles ist anders als in unserer Welt, von der Staatsstruktur über Religion und Philosophie bis zum Aussehen der Lebewesen. Die Leser benötigen dieses Wissen, um die Welt und die Ereignisse darin verstehen zu können. Aber sie brauchen nicht jedes Detail sofort.
Eine vergleichbare Situation ergibt sich für Autoren historischer Romane. In diesem Fall sind die Ereignisse historisch belegt, die Zusammenhänge erforscht und interpretiert. Auf diesem Wissenshintergrund soll sich eine Handlung zwischen den Charakteren entwickeln.
Vielleicht ist ein Autor Arzt. Im Laufe der Handlung seines Romans wird eine Operation notwendig. Für den Arzt ist das eine gute Gelegenheit, im Sinne der Authentizität sein Fachwissen einfließen zu lassen.
In all diesen und in zahlreichen weiteren denkbaren Fällen laufen die Autoren Gefahr, den Leser mit Informationen zu überfluten. Sie wollen ihr ganzes Wissen präsentieren und übersehen, dass für den Leser und auch für das Funktionieren ihrere Geschichte nur ein Teil, oftmals nur ein winziger Teil, ihres Wissens notwendig ist.
Umgekehrt kann der Versuch, dem Fluch während des Schreibens Einhalt zu gebieten, den gegenteiligen Effekt haben. Statt einer Informationsflut gelangen Informationen in einer zu spärlichen Dosis in den Text. Der Autor setzt beim Leser zu viel Wissen voraus, was den Leser ebenso verwirrt zurücklässt wie das Zuviel an Informationen.
Den Fluch mit dem Rotstift bannen
Während des Schreibens ist es fast unmöglich, dem Fluch des Wissens beizukommen. Wenn Autoren während dieser Phase merken, dass sie unter der Wirkung des Fluchs schreiben, können sie die Stellen notieren, an denen es ihnen aufgefallen ist. Vielleicht hilft diese Praxis, zum Ende des Schreibvorgangs die Informationen besser zu dosieren. Der Rotstift bei der Überarbeitung dennoch das beste Mittel, den Fluch zu bannen. Oft reduzieren erst mehrere Überarbeitungsgänge die Informationsflut oder den Informationsmangel auf das richtige Maß. Test-Leser sind ebenfalls eine große Hilfe, da sie eine Außensicht auf den Text haben, die Autoren nie erreichen können.