Natürlich ist es ein erhebendes Gefühl, wenn wir den letzten Punkt ans Ende eines Manuskripts setzen. Wir haben etwas abgeschlossen, Zeit und Gefühle investiert. Aber in dieses Hochgefühl mischen sich manchmal auch Trauer und ein Gefühl der Verlorenheit. Die Charaktere, die uns über Monate begleitet haben, die wir denken, fühlen und handeln ließen, sind mit einem Mal nicht mehr bei uns. Die Welt, in der wir mit diesen Charakteren gelebt haben, zieht sich von uns zurück. Schon beim Durchlesen des Manuskripts merken wir, dass Distanz entstanden ist. Wir sehen von außen auf unser Werk. und wir sind allein.
Woher kommt die Verlorenheit?
In unserer Fantasie haben wir uns eine Welt geschaffen. In dieser Welt hatten wir Beziehungen. Zwar existierten diese Personen nicht wirklich, und wir waren uns dessen auch jederzeit bewusst, trotzdem waren es Beziehungen, in die wir Gefühle investiert haben. Wenn wir ein Manuskript abschließen, in das wie viele und starke Gefühle investiert haben, erleben wir einen Verlust wie im richtigen Leben.
Wie alle Verluste schmerzt auch dieser Verlust. Auch ich habe schon geweint, als ich ein Manuskript beendet hatte: das erste Mal, als der erste Entwurf fertig war, und besonders nachdem die letzte Bearbeitung abgeschlossen war. Ich wusste, dass ich in diese Welt nicht mehr zurückkehren würde, allenfalls wie ein Besucher, sollte ich das fertige Buch noch einmal lesen. Mit diesem Lesen ist auch die Angst verbunden, dass ich als Leserin die Welt weniger intensiv erleben könnte. Das Gefühl der Verlorenheit ließ aber bald nach, und ich konnte ein neues Schreibprojekt in Angriff nehmen.
Ich vergleiche das Gefühl mit dem Abschließen einer Wohnung, in der man lange gewohnt hat. Gute und schlechte Erinnerungen sind mit dieser Wohnung und ihrer Umgebung verbunden. Es sind diese Erinnerungen, die uns scheinbar festhalten wollen. Selbst wenn wir wissen, dass wir in eine aufregende und vor allem bessere neue Umgebung ziehen, lässt sich die Melancholie nicht vertreiben. Wir wissen, dass sich unser Leben ändern wird und dass wir als Besucher die alte Umgebung anders erleben werden. Das hindert uns jedoch nicht, unsere neue Wohnung mit Freude zu beziehen und die neue Umgebung voll Neugier zu erforschen.
Ähnlich verhält es sich mit der Verlorenheit nach Abschluss eines Schreibprojekts. Wer schon länger schreibt, kennt das Gefühl und weiß, dass es vergehen wird. In unserer Kreativität sind wir flexibler als in unseren realen Bindungen.
Kann ich das Gefühl der Verlorenheit bekämpfen?
Die Antwort ist in meinen Augen ein klares Jein. Das Gefühl der Verlorenheit wird weichen, wenn wir mit unserem Verstand und unseren Gefühlen eine neue Welt für ein neues Projekt erschaffen. Doch können wir diesen Moment nicht herbeizwingen. Selbst wenn wir schon eine Liste mit Ideen oder gar konkreten Projekten angelegt haben, brauchen wir Zeit, um uns auch emotional engagieren zu können.
Vor allem sollten wir nicht erwarten, dass die Bindung an das neue Projekt ebenso stark sein wird wie an das abgeschlossene Projekt. Das neue Projekt verdient und braucht unsere Offenheit, und wir sollten ihm geben, was es braucht. Vielleicht spricht uns dieses Projekt auf eine andere Weise an als das vorherige. Je nachdem was wir schreiben, investieren wir andere Gefühle: Liebe, Rebellion, Hass, Freundschaft. Möglicherweise sind wir erleichtert, wenn wir eines Tages mit dem Hass eines Charakters abschließen können, oder froh, uns nicht länger der inneren Zerrissenheit eines anderen Charakters stellen zu müssen.
Nach Abschluss eines Projekts ist es an der Zeit an ein neues Projekt zu gehen: offen und unbelastet.
Und ich dachte schon, nur ich fühle mich so traurig, wenn mein Buchprojekt zu Ende geht sehr schön geschrieben!
Du bist da nicht allein. Das ist ein weit verbreitetes Phänomen.