Gegenstände erzählen lassen

Gegenstände

Ein Problem, mit dem sich viele Autor*innen herumschlagen, ist die Vorgeschichte ihrer Charaktere. Leser*innen möchten wissen, was einen Charakter zu dem Menschen gemacht hat, den sie in der Handlung treffen. Doch all diese Informationen blähen das Manuskript auf und lenken von den wichtigen Handlungsschritten ab. Was wir suchen, ist eine Vorgeschichte in minimaler Länge und maximaler Wirkung. Gegenstände können diese Aufgabe übernehmen.

Gegenstände sind mehr als Teil der Beschreibung

Wir wissen viel über unsere Charaktere, und wir glauben, dass unsere Leser*innen all diese Informationen brauchen und auch haben wollen. Leider blähen Rückblenden, Erinnerungen und Prologe die Handlung auf, sodass Leser*innen das Gefühl bekommen, die Handlung schreite nicht voran. Statt den Leser*innen sämtliche Ereignisse zu zeigen, bietet sich eine Abkürzung an: Symbole für das, was den Charakteren wichtig ist.

Wenn wir die Rückblenden und Beschreibungen der Umgebung eines Charakters untersuchen, finden wir wahrscheinlich Gegenstände oder Lieder oder Geschichten, die den Charakter geprägt haben und die ihm viel bedeuten. Oft stehen diese Gegenstände nicht für sich selbst. Wir haben ihnen bereits eine symbolische Bedeutung gegeben, ohne dass wir uns dessen bewusst waren. Wenn wir diese Bedeutung herausarbeiten, sparen wir nicht nur zahlreiche Seiten, wir können die Handlung verdichten und die moralischen und psychischen Konturen des Charakters schärfen.

Denken wir an große Romane und Filme, fallen uns sofort zahlreiche Gegenstände ein, die für einen Charakter und seine Geschichte stehen: der Ring in der Der Herr der Ringe, die Plantage Tara in Vom Winde verweht, Hermines struppige Haare in Harry Potter, das Moor in Sturmhöhe. Tagebücher, Briefe, Schmuckstücke, Spielzeuge, Kleidungsstücke, Zahnspangen – Die Fülle an Alltagsgegenständen, die sowieso in einem Roman auftauchen, ist riesig.

Die Wandlung vom Objekt zum Symbol

Nehmen wir Hermines buschige Haare in Harry Potter. Haare und Zähne sind das erste, was Leserinnen über das Mädchen erfahren, als es in das Zugabteil von Harry und Ron betritt. Beschreibungen von Frauen erwähnen oft die Haare. Gewöhnlich wird betont, wie lang oder weich sie sind. Lange und weiche Haare sind stereotype Beschreibungen von weiblichen Wesen, die Hinweise darauf geben, dass ihre Besitzerinnen den Vorstellungen von Weiblichkeit entsprechen. Hermines Haare sind jedoch buschig, widerspenstig und entsprechen nicht dem Bild, wie ein Mädchen aus der Mittelschicht an einer Privatschule aussehen soll. Als Hermine in Harry Potter und der Feuerkelch ihre Haare für den Ball glatt zaubert, erkennen ihre Mitschüler und Mitschülerinnen erstmals ihre Weiblichkeit. Auch Hermines vorstehende Schneidezähne entsprechen nicht dem gängigen Schönheitsideal, zumal ihre Eltern Zahnärzte sind.

Hermines Haare und Zähne kennzeichnen sie als ein ungewöhnliches Mädchen, als widersprüchlich und eigenständig. Ihr Verhalten und ihr Handeln in der eigentlichen Handlung werden so in wenigen Sätzen vorweggenommen. Eine Erläuterung ihres familiären Hintergrundes, ihrer Erfahrungen in der Grundschule wegen ihrer Haare, die Bemühungen ihrer Eltern, die Schneidezähne zu korrigieren – all das müssen die Leser*innen nicht wissen, um Hermine kennenzulernen.

Beinahe jeder alltägliche Gegenstand kann in ein Symbol verwandelt werden, das in kürzester Form einen Charakter beschreibt.

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