Es hat lange gedauert, bis ich verstanden hatte, dass ein erster Entwurf nicht perfekt sein kann. Als Jugendliche habe ich das erste Mal versucht, ein Buch zu schreiben. Es fing an in einer äußerst langweiligen Unterrichtsstunde auf einem Blatt Löschpapier. In der Pause war meine Sitznachbarin begeistert. Ich habe zu Hause weitergeschrieben (von da an nur noch zu Hause), und eines Tages waren mehrere Packungen Ringbucheinlagen in das Projekt geflossen. Das Ergebnis war ermutigend. Nun wollte ich ein richtiges Buch schreiben. Doch alles, was ich schrieb, las sich nicht im Entferntesten so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich war frustriert und gab das Projekt auf. So wiederholte es sich mehrere Jahre. Eines Tages wurde aus dem Manuskript ein gedrucktes Buch. Was war passiert?
Wie sieht ein erster Entwurf aus?
Wer schreiben möchte, fängt wie alle anderen mit dem Lesen an. Vielleicht kristallisiert sich da schon heraus, dass zukünftige Autor*innen anders lesen. Sie behalten die Geschichten nicht nur im Kopf, sie bauen sie aus oder sie bauen sie um. Eigene Geschichten entstehen – zunächst vielleicht nur als Ideensplitter beim Duschen oder als Unterhaltung am Lagerfeuer. Aber an Anfang ist immer ein Buch, ein perfektes Buch mit einer durchkomponierten, in sich geschlossenen, sprachlich bezaubernden Handlung. Dieses fertige Buch, in das Monate, vielleicht Jahre an Arbeit geflossen sind, machen wir naiv zum Maßstab unserer ersten Projekte.
Wir alle wissen, dass ein erster Entwurf niemals an ein gedrucktes Buch heranreichen kann. Aber wir wissen es erst jetzt, nachdem wir den langen und schmerzhaften Weg gegangen sind. Andere haben den Weg noch vor sich.
Wir wissen, dass die Handlung in der ersten Fassung eines Manuskripts verworren sein wird. Dass die Charaktere sich ähneln wie eine Tasse im Schrank der anderen. Einige haben Macken und Sprünge, und sind dennoch flach und stereotyp. Dass die Dialoge entweder aus langen Pausen, Ähs und Hms bestehen oder so hochgestochen sind, dass niemand sie verstehen kann. Dass die Handlung sich viel zu schnell oder viel zu langsam oder gar nicht entwickelt.
Was ist der Zweck eines erstens Entwurfs?
Allerdings haben wir gelernt, dass aus dieser Ansammlung an Plattheiten ein Roman werden kann. Denn unser erster Entwurf ist fertig geschrieben. Die Geschichte existiert nun außerhalb unseres Kopfes. Das ist die einzige Funktion des ersten Entwurfs. Aber sie ist die wichtigste im gesamten Entstehungsprozesses eines Romans.
Nun beginnt eine neue Arbeitsphase, die für einige Autor*innen eine Qual ist, für andere eine Freude. Nervenaufreibend ist sie allerdings für beide Gruppen. In dieser Arbeitsphase wird der erste Entwurf mehrerer intensiver Überarbeitungen unterzogen. Am Ende bleibt vielleicht nicht mehr viel vom ersten Entwurf übrig. Alte Charaktere flogen heraus, neue wurden eingepflegt, die Erzählperspektive wurde geändert, das Tempo angepasst, Szenen wurden gestrichen oder verschoben, die Sprache überarbeitet. Die Arbeit ist hart, oft schmerzhaft, aber lohnend. Am Ende dieser Arbeit liegt das fertige Buch vor uns. Am Ende, nicht am Anfang.