Wenn der Erzähler alles weiß

(c) Ole Sevecke

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Ein Erzähler in der dritten Person ist kein Charakter der Geschichte. Es ist eine Stimme im Kopf des Lesers, die die Geschichte zu erzählen scheint. Manchmal scheint die Stimme dieser dritten Person die Handlung aus den Augen eines Charakters zu erzählen, manchmal scheint sie von einem Charakter zum anderen zu wechseln, aber immer nur aus der Perspektive eines Charakters zu einer Zeit zu sprechen. Manchmal scheint der Erzähler über der Handlung zu schweben. Dieser Erzähler ist allwissend. Man bezeichnet ihn  auch als auktorialen Erzähler.

Eigenschaften des allwissenden Erzählers

Der allwissende Erzähler hat einen großen Vorteil. Er steht außerhalb der Handlung und betrachtet die Charaktere. Er ist distanziert und bemüht sich um eine neutrale Darstellung aller Charaktere.

Diese Toleranz kann er sich leisten, denn er weiß, was jeder von ihnen sieht und fühlt. Er weiß, was die Charaktere denken und kann so beispielsweise zeigen, dass zwei Leute bei Kerzenschein in einer Bar sehr unterschiedliche Gefühle füreinander hegen. Aus seiner Distanz heraus ist dem allwissenden Erzähler möglich, dem Leser vorzuführen, wie Missverständnisse entstehen, weil er jeden Charakter in seiner gesamten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kennt, weil er jeden Gedanken verraten kann und eine Erklärung für jede Reaktion der Charaktere liefern kann.

Möglichkeiten des allwissenden Erzählers

Mit einem allwissenden Erzähler kann der Autor die Handlung kommentieren und zusätzliche Informationen geben. Er kann den Leser auf Zusammenhänge hinweisen, die den Charakteren unbekannt sind.

Ein allwissender Erzähler beansprucht Autorität. Im neunzehnten Jahrhundert hatten die meisten Geschichten allwissende Erzähler. Dies änderte sich im zwanzigsten Jahrhundert mit demokratischen Bestrebungen und erweiterten Erkenntnissen in der Psychologie. Leser begannen, sich mehr für den individuellen Charakter zu interessieren. Sie wollten wissen, wie die Umwelt auf einen Charakter wirkt und wie dieser Charakter mit seinen Eindrücken lebt und leidet.

Allwissende Erzähler heute

Aber nach wie vor existieren allwissende Erzähler. Ihre Allwissenheit hat sich jedoch gewandelt. Ihre Autorität ist nicht mehr absolut, vielmehr dient sie als Tür in die innersten Verwicklungen und eröffnet Lesern den Blick auf die Seelen der Charaktere so dass der Leser eigene Schlüsse ziehen kann.

Daneben existieren auch allwissende Erzähler, die den Leser nicht vergessen lassen, dass eine Geschichte etwas Künstliches und Gemachtes ist. So ist der Leser ständig gezwungen, sich zu erinnern, dass er es mit Kunstfiguren zu tun hat, nicht mit richtigen Menschen. Mit Kunstfiguren kann man sich nicht identifizieren. Kunstfiguren dürfen sich anders verhalten, als richtige Menschen. Sie dürfen drastischer sein, kompromissloser, im Guten wie im Bösen.

 

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