„Wie lange schreibst du an einem Buch?“ ist eine häufige Frage an Autoren. Ich finde die Frage schwer zu beantworten, denn sie geht von einer unzutreffenden Annahme aus. Schreiben, der Akt, in dem Worte aus dem Geist in sichtbare Wörter auf einem Bildschirm oder auf Papier gebannt werden, ist nur ein Teil von dem, was das Erstellen eines Manuskripts beinhaltet. Wie kommt es zu der Annahme, dass nur Schreiben für ein Buch notwendig ist? Was gehört alles zu diesem „Schreiben“? Wie lange dauert das „Schreiben“?
Drei Fragen entstanden aus einer.
Die Fehlannahme: Schreiben heißt ein Buch schreiben
Schreiben hält Gedanken in für Außenstehende lesbaren Wörtern fest. Der reine Akt des Schreibens ist abhängig von vielen Faktoren. Wenn ein Autor sagt, er schreibe zwei Jahre an einem Roman, kann der Roman lang sein oder der Autor wenig Zeit zum Schreiben haben oder seine kreative Phase am Tag ist kurz. Äußere wie innere Bedingungen wirken auf das Schreiben ein. Abgeschirmt von allen Anforderungen des Alltags sind für einige Autoren zwanzig Stunden Schreibarbeit möglich, andere schaffen selbst bei optimalen Bedingungen nur zwei Stunden.
Leser sehen normalerweise nur das fertige Produkt Buch: viele Seiten bedrucktes Papier, geschnitten, gebunden. Die gebundenen Seiten machen das Buch aus. Der Leser kann es in die Hand nehmen, es wiegen, daran riechen. Anhand der Zahl der Seiten, der Qualität des Papiers und des Einbands ordnet er dem Produkt Buch einen Wert zu. Weil man ein E-Book nicht in die Hand nehmen kann und man auch nicht sieht, wie umfangreich es ist, erscheint es manchen Lesern weniger wert. Die Zeit, die ins Schreiben geflossen ist, bleibt die gleiche.
Die unsichtbare Arbeit
Die Gedanken, die in das Buch fließen, haben vorher ihren Weg in den Kopf der Autorin gefunden. Jedes Detail im Text hat seinen eigenen Ursprung. Die ausschlaggebende Idee kann sich vor fünf Jahren gemeldet haben, die wiederum geht möglicherweise auf ein Erlebnis von vor zehn Jahren zurück. In diesen zehn Jahren wurde kein Wort des Buches geschrieben. Gehört die Zeit trotzdem zum „Schreiben“?
Eine Szene geht zurück auf einen Werbespot, ein Dialog begann sein Leben als Äußerung einer Frau in der Kassenschlange des Supermarkts, ein Druckfehler in einem Flyer war die Geburt einer skurrilen Gesellschaftsform in einem Science Fiction-Roman. Über wie viele Jahre sammelten sich die Details an? War sich der Autor den Folgen des Druckfehlers bewusst?
Die sichtbare Arbeit
Wenn die Protagonistin bei der Feuerwehr arbeitet, sollte der Autor über die Feuerwehr recherchieren. Das geht vom Schreibtisch aus, obwohl ein Gespräch mit einer Feuerwehrfrau ein nützlicher Aspekt der Recherche sein kann. Wenn die Protagonistin Jägerin ist, kann es notwendig sein, an einer Jagd teilzunehmen, ein Gewehr in der Hand zu halten, vielleicht sogar Schießen zu lernen. Die Bekannten der Autorin sehen im Schießen ein neues, womöglich fragwürdiges Hobby. Gehört die Zeit am Schießstand und auf der Jagd zum Schreiben?
Die einfache Antwort
Die einfachste Antwort auf die Frage „Wie lange schreibst du an einem Buch?“ ist eine Zeitangabe, die sich auf das reine Schreiben bezieht. Drei Monate, sechs Wochen, anderthalb Jahre. Ein Autor kann dann beginnen zu relativieren („Aber nur zwei Stunden an drei Tagen in der Woche“ oder „Täglich zehn Stunden, ganz konsequent“) oder auszuführen („Aber die Idee kam mir schon im Italienurlaub 1988, als ich den Unfall eines Briefträgers auf einer romantischen Altstadtgasse beobachtete“ oder „Ich habe zwei Jahre auf der Insel XY das Flugbild der Möwen beobachtet und gefilmt, damit ich mit in eine Möwe versetzen konnte“). Was immer diese Relativierungen und Ausführungen beim Frager bewirken, es ist niemals die vollständige Antwort. Vielleicht kann man die nicht geben.
Großartiger Beitrag! Ich habe immer versucht, meiner Umgebung das alles zu erklären, stets vergeblich. Hier ist alles genau auf den Punkt gebracht. Danke für die Argumentationshilfe!
Danke für das Lob 🙂 Die Reaktionen auch von anderen Autoren zeigen, dass wir alle das Problem kennen.