Der Leser ist wie ein hungriger Fisch. Er schnappt nach dem ersten Satz im Buch, und wenn dieser erste Satz ihn festhält wie der Haken einer Angel, liest er weiter. Wenn der Haken bricht, bleibt der Leser mit verwundeter Lippe zurück. Kein schönes Bild. Aber es ist nachvollziehbar, dass ein verletzter Leser so ein gefährliches Buch meidet.
Wir haben also unsere Angel ausgeworfen und den Leser mit unserem ersten Satz oder einer geschickten Kombination erster Sätze gefangen. Er liest weiter, versinkt in den Anfängen der Handlung, wird neugierig auf das weitere Buch, und lässt sich vom letzten Satz des ersten Kapitels zum ersten Satz des zweiten Kapitels ziehen. So weit, so gut.
Im Idealfall gleitet der Leser von Kapitelende zu Kapitelanfang durch ein Buch, ohne Interesse für seine Umwelt, aufmerksam nur für die Handlung vor seinen Augen und in seinem Kopf, bis er das letzte Wort auf der letzten Seite gelesen hat. Aber in der Realität unterbricht ein Leser seine Lektüre. Es kann sogar sein, dass Tage vergehen, ehe er Muße findet, zu einem Buch zurückzukehren. In der Zwischenzeit können in seinem realen Leben aufregende oder bewegende Dinge geschehen, die seine Gedanken vollkommen gefangen nehmen und das Gelesene in den Hintergrund drängen. Schließlich schlägt er das Buch wieder bei seinem Lesezeichen auf, lehnt sich zurück und beginnt erneut zu lesen.
An dieser Stelle müssen wir einige Fragen stellen:
- Wie gut erinnert sich der Leser an den vorher gelesenen Text?
- Wie schnell findet er zurück in die Handlung?
- Können wir ihm helfen?
Jeder Leser ist anders. Auch wenn wir unsere Zielgruppe klar definiert haben, können wir keine Aussagen über das Gedächtnis eines Lesers treffen, den Grad der Faszinationen des Buches für ihn und erst recht nicht über die Ablenkungen, denen er ausgesetzt war. Es hängt auch von der Stelle im Buch, an der er die Lektüre unterbrochen hat, ab, wie gut der Wiedereinstieg gelingt.
Nehmen wir an, der Leser unterbrach das Lesen innerhalb eines Kapitels. Vielleicht stößt er bei der Rückkehr ins Buch auf die ihm schon bekannten Namen der Protagonisten, findet sie mitten in der Handlung, erinnert sich und versenkt sich erneut. Das wäre ein optimaler Wiedereinstieg. Doch was ist wenn, der Leser an einer Stelle unterbrechen musste, an der die Handlung schnell und konfus ist, und die Erinnerung ihm einfach nicht sagen will, was vorher passiert ist? Nun können wir nicht überall im Buch Anmerkungen für vergessliche Leser hinterlassen. Es bleibt uns nur zu hoffen, dass der Leser entweder zurückblättert, bis er die Handlung wiedererkennt. oder dass im Weiterlesen seine Erinnerung und sein Lesegenuss zurückkehren. Je weniger der Leser vor der Unterbrechung gefangen war, desto schwerer fällt ihm der Neueinstieg.
(Manche Leser unterbrechen übrigens an spannenden Stellen, weil sie die Spannung nicht aushalten können. Dann hängt der erfolgreiche Wiedereinstieg davon ab, ob die Spannung positiv oder negativ empfunden wurde.)
Aber vielleicht konnte unser Leser die Lektüre geplant unterbrechen. Das Lesezeichen liegt am Ende eines Kapitels, der Leser kann mit einem neuen Kapitel beginnen. Jeder Kapitelanfang kann der Ort für einen geplanten Wiedereinstieg sein. Deshalb sollten wir darauf achten, dass jeder Kapitelanfang den Leser in die Handlung zieht. Es gelten die gleichen Regeln wie für den Anfang des Buches. Der einzige Unterschied ist, dass der Leser die Charaktere bereits kennt und auch schon eine Vorstellung über den möglichen Verlauf der Handlung gewonnen hat. Packen wir ihn also bei seinem Vorwissen und seinen Erwartungen und nutzen die als Angelhaken, um ihn in jedes neue Kapitel zu ziehen.