Leserin, Leser und Charakter, sie müssen zusammenfinden, sonst trennen sich ihre Wege nach ein paar Seiten (oder Kapiteln). Was ermöglicht es einer Person aus Fleisch und Blut (Leserin oder Leser), eine Beziehung zu einer fiktiven Person aufzubauen? Es ist eine Beziehung mit wenig Austausch, das gebe ich zu, aber wenn sie entsteht, erhöht sich das Lesevergnügen.
Leser und Charakter – Sie (oder er) ist wie ich
Ernest Hemingway forderte, dass Autor*innen Menschen statt Charaktere schaffen. Die meisten Autor*innen versuchen das, selbst wenn sie das Zitat nie gelesen haben. Erscheint der Charakter wie ein lebendiger Mensch, fasziniert er. Das gelingt sogar in Büchern, die mehrere hundert Jahre alt sind oder aus einer anderen Kultur stammen.
Leser*innen entdecken schnell (wenn auch nicht immer zu ihrer vollkommenen Freude), dass ein Charakter ähnliche Eigenschaften oder Probleme hat wie sie. Das erleichtert es ihnen, sich mit diesem Charakter zu identifizieren. Das gilt für romantische Romane ebenso wie für Superhelden-Geschichten. In jeder Szene überlegen sie, wie sie handeln würden. Sie stimmen Entscheidungen zu oder lehnen sie ab, spüren die ablehnenden Blicke und die Angst vor der Entscheidung. Diese Gemeinsamkeiten ermöglichen es Autor*innen auch, Leser*innen, in die Irre zu führen oder sogar zu manipulieren.
Ich wär so gern wie du
Leserin, Leser und Charakter können Ähnlichkeiten haben, aber Charaktere können auch in Situationen kommen, in denen Leser*innen gern wären. Vielleicht möchten wir wie die Superhelden fliegen, andere Menschen retten, im Rampenlicht stehen oder geliebt werden. Wenn ein Charakter etwas hat, was wir auch gern hätten, möchten wir wissen, wie er damit umgeht. Abenteuer und Ruhm können uns in große Gefahr bringen (die wir gewöhnlich meiden), wir wollen wissen, wie es dem Charakter in solchen Situationen ergeht. Liebe bringt Verantwortung und die Gefahr des Verlusts, auch hier wollen wir wissen, wie der Charakter sich verhält.
Manchmal bieten Charaktere Leser*innen sowohl Identifikation als auch etwas, das Leser*innen gern besäßen. Wichtig ist, dass ein Unterschied zu den Leser*innen gewahrt bleibt. Das ist mit Superhelden einfach, die trotz ihrer außergewöhnlichen Kräfte unsicher gegenüber der Person, in die sie verliebt sind, sein können. Je weniger auffällig ein Charakter auf den ersten Blick zu sein scheint, umso wichtiger ist der Konflikt, in den er oder sie gerät.