Die ersten Zeilen sind nicht das, was sie anmuten. Sie stehen selbstverständlich am Anfang des Texts, aber sie wurden so gut wie nie als erstes geschrieben. Viel wahrscheinlicher ist, dass sie das letzte sind, was seine endgültige Form im Manuskript erhält.
Die ersten Zeilen, also die, wir tatsächlich zuerst schreiben
Die ersten Zeilen, die wir tatsächlich schreiben, führen uns in unseren Text. Das ist ihre Aufgabe. Sie sollen niemanden beeindrucken, sie sollen niemanden verführen. Sie sind die unebenen Stufen, über die wir Schreibende in das Gewölbe unserer Fantasie stolpern und rutschen. Richtige Leser*innen existieren in diesem Stadium nicht, es gibt allenfalls eine vage Idee über eine Zielgruppe, die sich (hoffentlich) in ferner Zukunft für die Endversion des Texts interessieren wird.
Schon in diesem frühen Stadium verraten die ersten Zeilen etwas über den wichtigsten Charakter, über die Stimmung, über das Setting, über die Handlung, über ein Problem. Aber all das ist noch verschlüsselt. Nur die Schreibenden selbst können verstehen, was gemeint ist. Schreibend sind sie die ersten Leser*innen. Sie haben noch keinerlei Distanz zum Text, können den Text nichts ansatzweise analysieren.
Bis zu einer Textversion, die vor die Augen der weiten Öffentlichkeit gelegt werden kann, müssen wir noch viel Arbeit investieren: den vollständigen Text schreiben, Ergänzungen einbauen und Streichungen vornehmen, Szenen umstrukturieren, an der Sprache feilen …
Die Zeilen am Anfang des fertigen Texts
Irgendwann nach allen Änderungen stellt sich die Frage nach dem endgültigen Anfang, nach dem Anfang, der tatsächlich den Beginn des Texts darstellt. Dann beginnt ein Feilen, das aus dem Anfang des ersten Kapitels die (eines Tages vielleicht legendären) ersten Zeilen macht.
Diese Zeilen haben mindestens drei Aufgaben. Nicht immer erfüllen sie alle gleichzeitig. Und nicht immer erfüllen sie für jede Leser*in diese Aufgaben befriedigend. Aber damit müssen wir (Autor*in wie Leser*in) leben.
- Die erste Zeile muss Lust auf die zweite Zeile, den ersten Absatz, die erste Seite, das erste Kapitel, das ganze Buch wecken.
- Die Stimmung des Buchs muss sich andeuten.
- Ein Problem sollte sich zeigen oder andeuten.
Diese drei Aufgaben zeigen auch, warum das erste Kapitel oft nicht das Kapitel, das zuerst geschrieben wurde, bleiben kann. Um wenigstens eine Anforderung erfüllen zu können, muss die erste Zeile zum ersten Kapitel passen, und dieses erste Kapitel muss genau auf seine Aufgabe abgestimmt sein.