Leser*innen sind neugierige Menschen und möchten daher immer wissen, was in einem Buch als nächstes passiert. Genauer gesagt möchten sie wissen, was den Charakteren als nächstes zustößt, was die Charaktere tun und was dieses Tun auslöst, woraufhin die Charaktere wieder handeln müssen. Das erfahren sie in Szenen. Was passiert in einer Szene?
Szenen sind nie allein
Szenen sind Teile des Buchs, in denen etwas passiert. Charaktere handeln. Sie tun etwas, und dieses Tun hat Folgen. Die Folgen wiederum machen neues Handeln notwendig. Dieser Wechsel zieht sich durch das gesamte Buch und ist meistens das, woran Leser*innen sich erinnern und worüber sie mit anderen Leser*innen als Erstes sprechen. Erst wenn die Frage nach dem, was passiert, geklärt ist, kommen (eventuell) noch Fragen nach den Charakteren, nach der Sprache, dem Stil oder anderen Aspekten des Buchs. Das mag für Schreibende, die Sprache als Spiel empfinden und deshalb mit den Worten spielen wollen, demotivierend klingen. Doch die brillante Sprache kann von Leser*innen nicht bewusst wahrgenommen, ihren Lesegenuss trotzdem erhöhen.
Das Kopfkino, von dem so oft die Rede ist, entsteht durch eine Vernetzung von Szenen, zusammengehalten von erklärenden Passagen, die den Lesenden helfen, die Sprünge von einer Aktion zur nächsten zu nehmen und Zusammenhänge zu verstehen. Eine Szene steht immer in einer Beziehung zu vorhergehenden Textstellen mit den beteiligten Charakteren und zu nachfolgenden Szenen. Textstellen, in denen die Charaktere etwas tun, aber nicht mit anderen Handlungen in anderen Textstellen verbunden sind, sind keine Szenen.
Was erleben die Leser*innen?
Wer böse ist, könnte jetzt sagen, dass Szenen lediglich Neugier und Sensationslust der Leser*innen ansprechen und sie ohne gedanklichen Ballast von einer Aktion zur nächsten springen lassen. Bestimmt gibt es solche Bücher. Der Effekt wäre ein Übermaß an Handlung, vergleichbar mit der Live-Berichterstattung eines Fußballspiels im Radio. Da müssen die Zuhörer*innen ohne Pause zuhören, um zu verstehen, was passiert. Am Ende fassen sie selbst das Spiel mit dem Spielstand, den bravourösesten Torschüssen, den spektakulärsten Fouls und den absurdesten Schiedsrichterentscheidungen zusammen. Die Leistung weniger prominenter Spieler*innen, die geschickten oder missglückten Spielzüge und die gerechtfertigten Eingriffe der Schiedsrichter*innen bleiben unerwähnt und werden vergessen.
In Buchform wäre der Text so einer Live-Berichterstattung unerträglich und unlesbar. Damit die Leser*innen die Handlungen der Charaktere miterleben und gleichzeitig einordnen können, benötigen sie Szenen und erzählende Abschnitte, in denen sie alle notwendigen Informationen über Personen, Zeit und Raum erhalten. Unbewusst fügen Leser*innen diese erzählten Informationen in die Szenen ein. Auf diese Weise entsteht für sie ein zusammenhängender Strom von Bildern, also das Kopfkino.