Stehen wir vor unseren Bücherregalen oder betrachten wir die E-Book-Bibliothek auf unseren E-Readern, stellen wir meistens folgendes fest: Unsere Lektüre besteht aus Büchern deutschsprachiger Autor*innen oder aus Übersetzungen aus dem amerikanischen Englisch. Übersetzungen französischer, spanischer oder russischer Autor*innen finden sich selten, und Autor*innen aus unseren Nachbarländern Niederlande, Polen oder Dänemark noch seltener. Asiatische Autor*innen, afrikanische Autor*innen? Meistens Fehlanzeige. Bücher in der Originalsprache? Allenfalls Englisch. Selbst Vielleser nehmen eine eher einseitige Kost zu sich. Wir sollten mehr über den Tellerrand lesen.
Über den Tellerrand lesen – Was verpassen wir?
Wenn wir ausschließlich Bücher aus deutschsprachigen Ländern und den USA lesen, verengt sich unsere Erfahrung auf die Welt, die uns diese Autor*innen anbieten. Wir bewegen uns auf Pfaden, die wir kennen, gehen durch Häuser, wie wir sie bewohnen, erleben Arbeitssituationen, die unseren ähneln, schlagen uns mit Problemen herum, die unsere eigenen sein könnten.
Menschen in anderen Kulturen haben zwar vergleichbare Probleme, erleben die jedoch in einem anderen kulturellen Rahmen. Wenn wir nicht lesen, wie Charaktere in Indien, Brasilien oder Japan mit Liebesschmerz und Gewalt umgehen, bleiben uns nur die Medien – meist unseres Landes – und unsere Sicht als Tourist*innen auf diese Länder. Sehr tief in das Leben und Leiden von Menschen können wir so nicht blicken.
Über den Tellerrand lesen – Was können wir als Leser*innen gewinnen?
Bei der britischen BBC schreibt Ann Morgan von einer Herausforderung, die sie sich 2012 stellte, nachdem sie den Inhalt ihres Bücherschrankes analysiert hatte. Sie wollte innerhalb eines Jahres Bücher aus allen damals von der UN anerkannten Ländern sowie aus Taiwan lesen. Dabei musste sie sich auf englische Übersetzungen beschränken, da sie nicht alle Sprachen dieser Welt beherrschte.
Dabei lernte sie etwas über den Büchermarkt und etwas über die Welt. Über den Büchermarkt lernte sie, dass Bücher aus kleinen Ländern und in Sprachen, die nur wenige Menschen sprechen, selten bis gar nicht übersetzt werden – auch nicht in eine weltweit gesprochene Sprache wie Englisch. Für deutsche Leser dürfte die Einschränkung des Angebots noch größer sein.
Mit diesem Leseexperiment gelangte Ann Morgan in Beschreibungen buddhistischer Tempel wie buddhistische Gläubige sie erleben und in die Gedanken eines mongolischen Hirtenjungen. Sie tauchte ein in die Gedanken von Menschen in fernen Ländern und sah auf deren Umwelt mit deren Augen. Damit erlebte sie nicht nur, wie das Leben dieser Menschen ablief, sondern konnte nachvollziehen, wie sich die Menschen fühlten.
Über den Tellerrand lesen – Was können wir als Autor*innen gewinnen?
Für Autor*innen hat dieser Blick durch die Augen von Menschen in anderen Ländern einen besonderen Reiz. Autor*innen sind es gewohnt, die Perspektive anderer Menschen einzunehmen und die Welt aus deren Blickwinkel zu betrachten. Wenn Autor*innen über den Tellerrand lesen, erweiterten sie ihr Instrumentarium an Handlungsmöglichkeiten für die Charaktere in ihren Büchern. Sie erleben die Distanz zwischen der Welt, in der sie leben, und der Welt, die sich auf der Buchseite eröffnet, als bereichernd. Diese Distanz lässt sich mit Fantasie überbrücken, mit der Fantasie in den eigenen Büchern.