Ein Buch braucht Charaktere, aber die Frage ist, wie viele Charaktere? Gibt es eine maximale Anzahl, die niemals überschritten werden darf? Oder ist die Anzahl egal und es kommt auf andere Aspekte an? Welche Aspekte sind das?
Zu viele Charaktere verderben das Buch?
Es gibt zahlreiche Klassiker, die viele Charaktere aufweisen. Besonders kompliziert wird es in den russischen Romanen des neunzehnten Jahrhunderts, die eine große Zahl Personen aufweisen, die zusätzlich noch unter unterschiedlichen Namen auftreten, je nachdem in welchem Kontext wir sie antreffen. Diese Bücher sind trotz des unübersichtlichen Personaltableaus nach wie vor beliebt. Diese Beliebtheit erklärt sich leicht: Die Bücher sind spannend und unterhaltsam, und die Charaktere unterscheiden sich voneinander.
Damit ist ein wichtiger Punkt angesprochen: Wenn sich die Individualität der Charaktere den Leser*innen einprägt, kann ein Buch auch viele Personen vertragen. Individualität benötigt jedoch Raum. Ein Roman mit fünfhundert Seiten kann fünfzig einprägsame Charaktere vertragen, eine Kurzgeschichte hingegen kann nur wenige scharf voneinander abgegrenzte vertragen.
Wie erschafft man Personen?
Ein Name ist, wie Leser*innen von Rumpelstilzchen wissen, von großer Bedeutung. Im richtigen Leben kennen wir die Namen vieler Menschen nicht, auch wenn wir täglich in Kontakt zu ihnen stehen. Müssen Leser*innen unbedingt die Namen der Pizzalieferantin, die der Protagonistin unkompliziert die bestellte Pizza bringt, des Busfahrers, des ihr eine Fahrkarte verkauft oder der Kellnerin, die ohne Zwischenfall ein Glas Bier vor den Protagonisten stellt, wissen? Wenn diese Statisten der Handlung auftauchen, brauchen sie keinen Namen. Es sei denn, sie machen etwas Ungewöhnliches. Dann bekommen sie eventuell eine Bedeutung, die über ihre Funktion hinausgeht, und verdienen – vielleicht – einen Namen.
Wenn wir Namen vergeben, sollten wir auch an unsere Leser*innen denken. Ähnliche Namen erschweren es den Leser*innen, die Charaktere zu unterscheiden. Unaussprechliche Namen lenken von der Handlung ab. Wenn sie eine eigene Rolle in der Handlung spielen, verdienen Charaktere einen individuellen, ruhig auch einen fantasievollen Namen und eine eindeutige Kennzeichnung wie ein Rosentattoo auf der Stirn oder eine Brandnarbe auf dem Handrücken in Größe eines Euros. Die Kennzeichnung sollte allerdings zur Rolle des Charakters passen.
Was macht man mit dem Überhang?
Charaktere sind keine richtigen Menschen. Wir erschaffen sie, geben ihnen Persönlichkeit und Funktion. Wenn sie ihre Funktion nicht erfüllen können, sind sie überflüssig. Dann haben sie keinen Platz in der Handlung, und wir räumen sie auf.
Wir haben verschiedene Möglichkeiten, die Anzahl der Charaktere übersichtlich zu halten. So können wir ihnen Namen und Kennzeichen nehmen und sie zu dienstbaren Geistern degradieren. Wir können sie ganz streichen. Oder wir legen zwei oder mehrere unscheinbare Charaktere zu einem interessanteren Charakter zusammen.