Willkommen zur siebten der kreativen Schreibübungen in diesem Sommer. Der Blick auf die Tränen des Opfers ist heikel. Es soll in diesen Übungen darum gehen, außerhalb des eigentlichen Texts einen Perspektivwechsel vorzunehmen. Die Entdeckungen aus diesem Perspektivwechsel sollen helfen, die Beziehung zwischen Opfer und Täter*in besser zu verstehen, um sie im Text nachvollziehbar beschreiben zu können.
Es ist wichtig zu berücksichtigen, dass eine einfache Darstellung der Gewalt aus Tätersicht Gewaltakt und Täter in den Mittelpunkt stellt und die Leser*innen an der Macht teilhaben lässt. Gewalt wird so glorifiziert. Ziel der Übung soll es dagegen sein, das eigene Wissen über den gewalttätigen Charakter zu erweitern, um dieses Wissen im Text zu benutzen.
Übung 1 — Die Beziehung der Beteiligten ausloten
Wie lange kennen sich die Personen? Sind sie miteinander verwandt oder leben/lebten sie in einer familiären Konstellation? Gibt es ein Gefälle in der sozialen Machtposition und worin besteht es (Alter, Vermögen, Intelligenz, körperliche Kraft …)? Was signalisieren Außenstehende dem Täter oder der Täterin ihre Einschätzung hinsichtlich seiner/ihrer Person und Position? Wie schätzt die Täterin oder der Täter das Verhalten der Außenstehenden ein? Was denkt die Täterin oder der Täter über das Opfer? Versteht sie oder er sein Handeln als Gewalt (physisch oder psychisch) oder vermutet er oder sie eine Verpflichtung oder Provokation? Wie signalisieren Außenstehende ihre Einschätzung des Opfers? Was sind die Reaktionen der Täterin oder des Täters auf Tränen oder Verletzungen beim Opfer? Besteht die Notwendigkeit, Tränen und Verletzungen zu erklären oder werden sie von Außenstehenden nicht kommentiert?
Übung 2 — Was bewirken die Tränen? Die Machterfahrung nachvollziehen
Ergibt sich aus den Antworten zu den Fragen in Übung 1 für die Täterin oder den Täter eine Bestätigung? Wie erlebt er oder sie die Zeit vor der Gewaltanwendung? Was empfindet er oder sie während der Gewaltanwendung? Welche Gefühle und körperlichen Empfindungen nimmt sie oder er nach der Gewaltanwendung an sich wahr? Bleiben diese Empfindungen erhalten oder muss der Gewaltakt wiederholt werden? Wie verändert sich die Einschätzung der Täterin oder des Täters in zunehmender zeitlicher Distanz zu dem Gewaltakt und zu dem Opfer?