Schreiben und Überarbeiten – einen Text erschaffen und lesbar machen – sind zwei grundverschiedene Tätigkeiten. Beide sind sinnvoll, beide benötigen einander. Doch obwohl sie so eng verbunden sind, sehen viele Menschen nur das Schreiben.
Text als Einheit
Der Grund dafür ist einfach. Wenn wir ersten Texten begegnen, als Erzählung unserer Eltern, als Geschichte im Bilderbuch, in Kinderbüchern, sind die Texte fertig. Variationen unserer liebsten Gute-Nacht-Geschichten lassen wir nicht zu, was zu Problemen führt, wenn uns an verschiedenen Abenden unterschiedliche Menschen die vermeintlich gleiche Geschichte erzählen wollen. Kleinen Kindern ist klar, dass eine Geschichte ein in sich geschlossenes Ganzes ist, ohne Variationen, ohne Abweichungen. Mit dieser Einstellung perlt der Aufsatzunterricht der Schule an uns ab. Möglicherweise verhindert die Einstellung auch viele Versuche, kreativ zu schreiben: Wenn der selbstgeschriebene Text den eigenen Ansprüchen nicht entspricht, kann er nicht bearbeitet werden, weil er eine unantastbare Einheit ist.
Text als veränderbares Material
Wer lernen will zu schreiben, muss lernen zu bearbeiten. Das Geschriebene ist nicht unantastbar.
Was also macht das Schreiben aus? Was macht das Bearbeiten aus? Die folgenden Listen sind mit Sicherheit nicht vollständig, doch ich hoffe, die wichtigsten Aspekte habe ich berücksichtigt:
Das Schreiben:
- Schreiben kommt vor dem Überarbeiten. Während des Schreibens sollten nur ins Auge fallende Fehler oder Ungenauigkeiten verändert werden.
- Schreiben ist in erster Linie für den Schreibenden. Leser spielen noch keine Rolle.
- Schreiben ist Erschaffen. Es entsteht eine Welt aus Wörtern. Wenn diese Wörter Bilder wecken, sind das die Bilder im Kopf der Autorin.
- Schreiben ist Anarchie. Alles ist erlaubt, es gibt keine Gesetze. Struktur, Grammatik, Rechtschreibung, Wortwahl liegen im Ermessen der Autorin.
- Schreiben ist persönlich. Der Autor gibt viel von seiner Person und seinen Erfahrungen in den entstehenden Text.
- Schreiben ist empfindlich. Der Text reagiert auf den Zustand des Autors. Kritik ist in diesem Stadium gefährlich, weil sie Grenzen setzt.
- Schreiben kann brutal für den Autor sein, wenn viel Persönliches in den Text fließt.
Das Überarbeiten:
- Überarbeiten folgt auf das Schreiben. Es benötigt Distanz zum Text, um Schwächen und Ungenauigkeiten in der Struktur, in Grammatik, Rechtschreibung und Wortwahl aufzudecken.
- Überarbeiten ist eine Annäherung des Texts an potentielle Leser. Je nach der Zielgruppe verändert die Überarbeitung das äußere Erscheinungsbild des Texts, um seine Aussage für die Leser herauszustellen.
- Überarbeiten ist Zähmen. Die Bilder der Autorin werden für die Leser sichtbar gemacht.
- Überarbeiten ist Erziehen. Damit Leserinnen verstehen, was die Autorin zu sagen hat, müssen Strukturen, Grammatik, Wortwahl und Rechtschreibung an die Erwartungen der Leserinnen angepasst werden.
- Überarbeiten ist Abwägen. Die persönlichsten, harschesten, wütendsten, leidenschaftlichsten Szenen und Ausdrücke müssen weichen, wenn sie den Autor bloßstellen, der Leserschaft unverständlich bleiben oder von der eigentlichen Aussage ablenken.
- Überarbeiten ist kritisch. Der Text wird untersucht und überprüft, auf den Kopf gestellt und umgestülpt.
- Überarbeiten kann brutal für den Text sein, wenn von Handlung über Struktur bis Wortwahl alles hinterfragt wird.
Wer schreibt, muss lernen, den eigenen Text zu überarbeiten. Ein roher erster Entwurf hat nie eine Chance bei einem Verlag. Lektorinnen lehnen so einen Auftrag entweder ab oder präsentieren eine hohe Rechnung für die Arbeit, die der Autor hätte leisten können. Zugegeben: Es gehört eine gewisse Kaltschnäuzigkeit dazu, den eigenen Text so brutal anzugehen. Doch das Resultat belohnt die Mühe in jedem Fall. Und der Lerneffekt ist groß.