Wenn wir die Charaktere unserer Texte erschaffen, fließen die Erfahrungen unseres Lebens in sie ein. Das sind nicht nur Erfahrungen aus erster Hand, das sind auch Erfahrungen, die wir in Erzählungen anderer Menschen miterlebt haben, die wir aus Liedern, Filmen, Büchern gewonnen haben. All diese Erfahrungen führen in uns ein Eigenleben. Wir ordnen sie – unbewusst – bestimmten Kategorien zu und rufen sie ab, wenn wir über diese Kategorien schreiben.
Je intensiver wir um einen Charakter ringen, desto tiefer dringen wir in den Schatz unserer Erfahrungen. Manchmal wird uns dabei bewusst, dass wir Eigenschaften von uns nahe stehenden Personen beschreiben. Je realer, oder auch wahrhaftiger, wir einen Charakter gestalten, desto mehr beleuchten wir eine oder mehrere reale Personen aus unserer Erfahrung.
Diese Vorgehensweise nützt nicht nur dem Charakter, den wir kreieren und der immer klarer und eigenständiger wird. Sie nützt auch uns, weil sie uns zwingt, die Menschen in unserem Leben, von denen wir die Erfahrungen beziehen, immer genauer zu betrachten. Als Nebenprodukt des Schreibens gewinnen wir neue Erkenntnisse über diese Menschen. Wir umkreisen sie gedanklich, wie wir es in einer alltäglichen Begegnung niemals tun würden. Gelegentlich entdecken wir Aspekte dieser uns so bekannten Personen, die wir zuvor nie bemerkt haben. Manchmal verstehen wir aus diesen gedanklichen Umkreisungen diese Personen besser als wir es im Alltag erreichen konnten (oder wollten).
Vermutlich hat diese neue, oder auch nur erweiterte Sicht kleine Auswirkungen auf unseren Umgang mit den Personen. Es wäre zu viel erwartet, und wäre oft auch nicht immer wünschenswert, wenn sich unsere Haltung grundlegend verändern würde. Aber wir haben einen neuen Blickwinkel gefunden, der uns in einer realen Konfliktsituation erlaubt, gelassener zu reagieren.