Wenn Autor*innen zugeben, dass sie ihre (Frei-)Zeit mit Schreiben verbringen, sieht ihr Gegenüber sie entweder zweifelnd an oder ist verzückt. Beiden Fällen liegen Missverständnisse zugrunde. Gegen diese Missverständnisse zu argumentieren, ist eine der undankbarsten Aufgaben.
Missverständnisse über das Schreiben – Jeder kann einen Roman schreiben
Aussagen wie dieser liegt eine vereinfachte Sicht auf das Schreiben von Romanen zugrunde. In unserer Gesellschaft können die meisten erwachsenen Menschen schreiben. (Aber nicht „jeder“.) Viele dieser erwachsenen Menschen verfügen über die Geduld, so viele Wörter zu schreiben, dass das Ergebnis dem Umfang eines Romans entspricht. Außerdem haben viele erwachsene Menschen Träume und gute Ideen, die sich grundsätzlich für einen Roman eignen. So gesehen könnte – fast – jeder einen Roman schreiben.
Mit guten Ideen, Geduld und ausreichend vielen Wörtern ist jedoch noch lange kein Roman geschrieben.
Eine Idee alleine genügt nicht für einen Roman, eine Idee kann lediglich den Ausgangspunkt für ein Geflecht von Ideen sein. Diese Ideen müssen Autor*innen kunstvoll verweben, bevor sie die erste Zeile schreiben. Das Verweben geschieht in langen Planungssitzungen auf Papier oder am Computer, oder in nicht sichtbaren „Sitzungen“ während ruhiger Arbeiten oder auf Spaziergängen. Wenn das Ideengeflecht stark genug ist, als Gerüst für den Roman zu dienen, beginnt das eigentliche Entwickeln der Geschichte. Dabei gibt es Fehlstarts, Sackgassen und auch eine Menge überflüssige Ideen und Textteile, die zu einem späteren Zeitpunkt ausgemerzt werden müssen. Bekleidet wird das Gerüst aus Ideen mit Worten, die Leser*innen in eine andere Welt führen und dort halten.
Es kann Wochen bis Jahre dauern, bis ein erster Entwurf eines Buches abgeschlossen ist. An diesem ersten Entwurf haften weitere Missverständnisse.
Missverständnisse über das Schreiben – Man schreibt einen Text und ist fertig mit dem Roman
Leser*innen sehen immer nur das fertige Produkt: einen Roman aus der Buchhandlung. Der Prozess der Entstehung wird im öffentlichen Bewusstsein ausgeblendet. Das ist nachvollziehbar, schließlich verbinden viele Leser*innen mit dem Lesen eines Romans Entspannung, dagegen ist der Entstehungsprozess mit Arbeit verbunden.
Wenn Leser*innen an ihre eigenen Schreibprozesse denken, wissen sie, dass sie jeden Brief, jede E-Mail, jede Textnachricht vor der Veröffentlichung wenigstens einmal überfliegen sollten, um die peinlichsten Fehler durch die Auto-Korrektur oder die Flüchtigkeit zu korrigieren. Ein erster Entwurf eines Romans steckt voller Fehler, nicht nur voller Schreibfehler. Darin versteckt sind Fehler bei der Schlussfolgerung, nachlässige Formulierungen, Wiederholungen, abrupte Übergänge, seitenlange Sätze, wechselnde Namen und Orte und alle möglichen und unmöglichen Entgleisungen, die nie das Auge einer lesenden Person erreichen sollten. Diese Fehler sind selten mit einer Überarbeitung behoben, manchmal erst nach der fünften Durchsicht. Und selbst dann gibt es noch genug für kritische Testleser*innen und Lektor*innen zu entdecken.