Warum entstand Einsamkeit neben dem Alleinsein? Autoren sollten aus meiner Sicht darüber nachdenken, schließlich sind sie von diesem Phänomen in mehrfacher Hinsicht betroffen – selbst wenn sie sich nicht einsam fühlen.
Allein mit Gott und einsam unter vielen Individuen
Über Jahrhunderte brauchten sich westliche Menschen keine Gedanken darüber zu machen, ob sie einsam waren und wie sie mit diesem Zustand und seinen Folgen zurechtkommen sollten. War jemand getrennt von anderen Menschen – freiwillig oder unfreiwillig – war immer noch Gott anwesend, mit dem der Mensch kommunizieren konnte. Die Wissenschaft ordnete Menschen bestimmten Typen zu, jeder war vergleichbar, und jeder konnte sich in anderen wiedererkennen. Im neunzehnten Jahrhundert verlor Gott an Bedeutung. Die neuen Wissenschaften entdeckten das Individuum. Jedem Menschen wurde die Fähigkeit zugesprochen, aus eigener Kraft das Beste für sich selbst erreichen. Der Wille zählte, das Gehirn zählte, und der normale oder abnormale Zustand des Körpers. Im zwanzigsten Jahrhundert schuf die Psychologie neue Typen: introvertiert und extrovertiert. Diesen Typen sprach man soziale und intellektuelle Eigenschaften zu und bewertete sie als positiv oder negativ.
Extrovertierte Menschen seien anderen Menschen zugewandt, kommunikationsfreudig, unabhängig, erfolgreich und – zwangsläufig – normal. Introvertierte Menschen hingegen seien isoliert, einsam neurotisch – eben nicht normal. Damit war ein Stigma geboren, das half, Einsamkeit als etwas Krankhaftes darzustellen. Vor Einsamkeit sollte man sich hüten.
Autoren und die Einsamkeit
Wenn Autoren schreiben, ziehen sie sich von ihren Mitmenschen zurück. Das gelingt ihnen auch an belebten Orten wie einem Café, doch viele Autoren ziehen es vor, dort zu schreiben, wo sie möglichst wenig Ablenkung ausgesetzt sind. Für viele Mitmenschen ist es schwer vorstellbar, dass sich jemand freiwillig zurückzieht und stundenlang schreibt. Schreiben ist ein stiller Vorgang, wenn man vom Klappern einer Tastatur absieht. Ein Autor, der sich freiwillig von der Umwelt separiert, um eine von außen kaum beobachtbare und in vielen Fällen finanziell nicht einmal lukrative Tätigkeit auszuüben, macht sich verdächtig.
Die Medien betonen gerne die Weltferne und Menschenscheu von Autoren. Ein bisschen neurotisch verkauft sich gut, außerdem versichern sie so den Massen, dass sie, die nicht schreiben, normal sind.
Das klingt überspitzt, doch beinahe jeder Autor hat im Laufe seines Lebens Situationen erlebt, in denen der Rückzug zum Schreiben als problematisch dargestellt wurde. Es gehört anscheinend zur Berufsbeschreibung, dass Autoren „irgendwie anders“ sind, selbst wenn die das nicht so empfinden.
Schreiben und Beschreiben der Einsamkeit
Autoren neigen dazu, Menschen zu beschreiben, die „irgendwie anders“ sind und aufgrund dieses undefinierten Andersseins mit Problemen zu kämpfen haben. Einerseits fasziniert das Anderssein Leser. Besonders offensichtlich wird diese Faszination bei der Darstellung von physischer, psychischer oder sexueller Gewalt. Serienmörder, Stalker oder Vergewaltiger erfreuen sich in Büchern besonderer Beliebtheit und bestätigen das negative Image von Einsamkeit sowohl bei Tätern wie bei Opfern.
Andererseits schrecken Darstellungen von psychischer Einsamkeit Leser ab. Sie werden allenfalls bei Autoren akzeptiert, die „Literatur“ schreiben, und damit in eine Sonderkategorie fallen, genial, aber als Menschen nicht ernst zu nehmen.
Autoren bewegen sich auf einem schmalen Grat. Sie beobachten und beschreiben Einsamkeit, vor der Menschen sich fürchten, tragen aber oft mit dazu bei, Einsamkeit und einsame Menschen als negativ darzustellen, zugleich arbeiten sie oft in Einsamkeit und gelten als zurückgezogen und seltsam. Damit stellt sich die Frage, wie Autoren dazu beitragen können, in ihrer Leserschaft ein positiveres Bewusstsein von Alleinsein und Einsamkeit zu wecken.