Wer schreibt wen?

Wer schreibt wen

Wenn Sie trotz aller Planungen nicht zufrieden mit Ihrem aktuellen Manuskript sind, wenn Sie alle Schreibratgeber gelesen und das Gelesene nach bestem Wissen berücksichtigt haben und trotzdem dieses nagende Gefühl bleibt, dass Ihr Roman auf ungreifbare Weise unbefriedigend bleibt, dann … ist es Zeit für eine andere Herangehensweise. Denn es stellt sich die Frage: Wer schreibt wen? Ist der Autor/die Autorin Herr und Gebieterin über Handlung und Charaktere oder gehören die Charaktere zu einer anderen Welt und wollen ihre Geschichte durch Sie erzählen?

Wer schreibt wen? — Autor*innen als „Medium“

In Filmen ist ein Medium schon vor einer Séance eine unheimliche Person, auffällig durch die Kleidung, den Körperbau oder den Gesichtsausdruck. Wenn das Medium dann in Kontakt zu der überirdischen Macht getreten ist, wird es starr oder spricht mit einer dumpfen Stimme. Aus einem lebendigen Menschen wurde ein Mittler zwischen zwei Realitäten. So können sich auch Autor*innen wahrnehmen.

Stephen King gibt in seinem Buch Über das Schreiben zu, dass er seine Bücher fast gar nicht plant. Er hat das Gefühl, die Geschichte sei bereits da und seine Aufgabe bestehe darin, sie freizulegen. Natalie Goldberg glaubt, die Geschichte (in ihrem Fall das Gedicht) existiere in ihr, deshalb sei es wichtig, die gedankliche Kontrolle während des Schreibens aufzugeben.

Andere Autor*innen sprechen vom Flow, einem Zustand, in dem sie ganz in das Schreiben versunken sind und ihre Umgebung nicht mehr wahrnehmen.

In diesem Zustand stellt sich dann die Frage, wer schreibt wen, im Sinne von wer kontrolliert wen? Üben die Autor*innen absolute Kontrolle über den Text aus und nehmen deshalb ihre Umgebung nicht mehr wahr? Oder geben sich die Autor*innen der Geschichte hin, die durch ihre Hände in die Tastatur fließt? (In der Biografie von Terry Pratchett schreibt Craig Cabell, Pratchett habe das Schreiben auf der Tastatur mit einer Therapie verglichen.)

Und was passiert dann?

Was passiert, wenn Sie die Kontrolle über eine Geschichte bewusst aufgeben, wenn Sie nicht mehr jeden Handlungsschritt planen und die Entwicklung der Charaktere nicht länger in eine bestimmte Richtung drängen?

Das Buch wird unvorhersehbar, und zwar zunächst für Sie, weil Sie sich der Entwicklung hingeben, statt sie zu steuern. (Man könnte sogar so weit gehen zu behaupten, Sie seien keine Autor*in mehr, weil Sie nicht mehr selbst schreiben, nur noch aufschreiben.) Es ist jedoch anzunehmen, dass diese Unvorhersehbarkeit bei Leser*innen gut ankommt.

Damit geben Sie auch Ihren Einfluss auf die Länge des Buches auf. Der Roman nimmt sich die Länge, die er benötigt. Zudem geben Sie Ihren Einfluss auf die Sprache auf. Darin besteht definitiv eine Befreiung von den Erwartungen anderer, Leser*innen wie Agent*innen.

Für die Phase der Überarbeitung kann all das Mehrarbeit bedeuten, Vermutlich vor allem die Kunst zu streichen, ohne wichtige Wendungen zu unterschlagen. Doch wenn die Alternative ist, vor einer detaillierten Planung tatenlos zu sitzen und zu grübeln, sollten Sie nicht scheuen, diesen anderen Weg auszuprobieren.

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