Mein Mann mag keine Bollywood-Filme. Er meint, die Männer weinten ständig. Ein Bekannter regt sich richtig auf, wenn er erzählt, dass seine Freundin Bollywood-Filme sieht. Die Männer weinen.
Es muss schrecklich sein, für einen Mann, so etwas sehen zu müssen.
Muss es das? Und was hat Bollywood mit Schreiben im deutschsprachigen Raum zu tun?
Zumindest die zweite Frage möchte ich sofort beantworten. Romane beschreiben Menschen und ihre Erfahrungen, Menschen im Umgang mit ihren Erfahrungen, Menschen und ihr Scheitern oder ihren Sieg, Menschen und ihre Wege aus schwierigen Situationen. Selbst wenn nur sachlich und akribisch beschrieben wird, was geschieht, denken Leser sich eine emotionale Ebene. Daher kommen Aussagen wie „Das Buch hat mich mitgenommen“, „Das Ende war ergreifend“, „Ich habe mitgefiebert“.
Leser fühlen mit den Charakteren. Sie möchten das und deshalb verlangen sie nach Inhalten und Charakteren, die ihnen das Eintauchen in eine Person und deren Welt erlaubt. Sie wollen Emotionen lesen, vielleicht als Ersatz für die eigenen.
Bollywood und Hollywood verkörpern zwei verschiedene kulturelle Umgangsweisen mit Emotionen.
In der einen (Traum)-Welt darf ein Mann weinen, sogar gemeinsam mit einem anderen Mann, ohne vom Ideal des „Mannes“ abzuweichen. Männliche Tränen in Hollywood werden dagegen einsam vergossen oder von einer Frau getrocknet, sonst ist der Mann kein „Mann„. Die Anführungsstriche sollen zeigen, dass es hier nicht um reale Personen oder biologische Wesen geht, sondern um kollektive Vorstellungen. Dass deutsche Männer sich stöhnend und verständnislos vom in Tränen aufgelösten Bollywoodstar abwenden und ihm anschließend keine Heldentat mehr abnehmen, liegt an kollektiven Vorstellungen, was einem Mann erlaubt ist zu tun (Heldentaten begehen), was einem Mann verboten ist (weinen), und vor wem ein Mann in dringenden Fällen Schwäche zeigen darf (Kopfkissen, Bierflasche, Mama, Geliebte).
Jetzt könnte man sagen, das sei im Film so, nicht im richtigen Leben, und habe außerdem gar nichts mit Schreiben zu tun.
Emotionen und unser Umgang mit ihnen hat viel mit dem richtigen Leben, wo immer man es finden möchte, und ganz besonders mit Schreiben zu tun.
Wer schreibt, wer Charaktere durch Höhen und Tiefen schickt, bewegt sich immer im Bereich der Emotionen. Diese Emotionen wollen beschrieben werden, vielleicht auch benannt, aber auf jeden Fall erkannt werden. Das muss der Autor leisten können. Dazu muss er in der Lage sein, die eigenen Emotionen wahrzunehmen und mit ihnen umzugehen. Er muss auch sehen können, wie andere Menschen sich verhalten, wie sie ihre Emotionen zeigen oder verstecken. Der Autor muss als Mensch Emotionen zulassen und respektieren. Als erstes seine eigenen.
Das ist in einer Kultur, die als emotionsarm beschrieben wird, nicht einfach. In Deutschland reißt man sich zusammen, macht es wie die Indianer und zeigt keinen Schmerz, und wird, damit Ruhe herrscht, vor den Fernseher gesetzt. Angst wird nicht ernst genommen, man hat sie zu überwinden. Deshalb ist ein Kind dumm, wenn es sich weigert auf ein Ausflugsboot zu gehen, und die Mutter, die das kindliche Argument des vielen tiefen Wassers unter dem Boot akzeptiert, ebenfalls.
Wer schreiben möchte, wer in sich den Drang spürt, ist höchstwahrscheinlich bereits ein Mensch mit starken Emotionen.
Möglicherweise werden diese Emotionen aber noch nicht bewusst erlebt. Als tägliche, ja ständige Übung sollte man beginnen, sich genau zu beobachten und diese Beobachtungen in Gedanken zu formulieren. Manchmal, vielleicht immer geschieht dies automatisch, auch schon in der Kindheit. Im Hinterkopf läuft ein kleines Aufzeichnungsgerät mit, welches das Erlebte und die eigenen Gefühle dabei festhält und kommentiert. So beobachtet man sich und andere. So sieht man Filme, so hört man Musik. Ein kleiner Teil der Aufmerksamkeit gilt den Emotionen, die eine Handlung, eine Melodie, eine Stimme, ein Geruch auslösen.
Manche sagen, die Worte zu finden, um ein Gefühl zu beschreiben, sei schwierig. Fehlt die Erfahrung des Gefühls, und fehlt der Respekt vor dem Gefühl, können die Worte nicht gefunden werden.
Darum finde ich es gar nicht tragisch, wenn Männer in Bollywood-Filmen weinen.
Einen schönen Artikel dazu, wie wichtig ein emotionales Leben ist, finden Sie auf dem englischsprachigen Blog von Maria Popova Brain Pickings.